Lernen ist wie Schwimmen im Strom

Film Von der Ferne geprägte Sicht auf die Heimat: Der Film "Korankinder" von Shaheen Dill-Riaz erzählt mit differenziertem Blick von den Religionsschulen in Bangladesh

In anderen Zeiten wäre Korankinder ein Film fürs Fernsehen, und in anderen Zeiten müsste man nicht befürchten, dass der Film Leuten, die schlichte Sichten auf den vordergründigsten Konflikt in der Welt pflegen, Material lieferte.

In diesen Zeiten aber erklärt sich der (kleine) Kinostart von Korankinder durch die Exklusivität seines Zugangs. Der Regisseur Shaheen Dill-Riaz wurde 1969 in Bangladeshs Hauptstadt Dhaka geboren, hat dort als Journalist gearbeitet und später in Deutschland Film studiert. Mit seinem Dokumentarfilm Eisenfresser (Freitag 24/08) hat Dill-Riaz bereits angedeutet, wie öffnend der Blick auf die eigene (Arbeits)Kultur aus der angelernten Ferne des Westens sein kann: Der Film schilderte die unwürdigen Arbeitsbedingungen, unter denen Tagelöhner in Bangladesh Schiffe abwracken und leuchtete damit einen toten Winkel in der globalisierten Rohstoffzirkulation aus.

In Korankinder geht Dill-Riaz nun in die Madrasa genannten Koranschulen seines Heimatlandes. Impuls für die Recherche ist die Wahrnehmung einer veränderten Öffentlichkeit in Dhaka, dem nach Mekka zweitgrößten Pilgerort der Welt. Den Zutritt zu den auf Abschottung bedachten Madrasas verdankt der Filmemacher seiner privilegierten Herkunft, die er zugleich zum Ausgangspunkt der Reflektion macht: Dill-Riaz‘ Vater ist Architekt auch religiöser Bauten, ein Angehöriger der Mittelschicht, die in dem armen Land nur eine geringe Prozentzahl ausmacht.


Korankinder setzt die irritierenden Bilder von Kinderkohorten, die hospitalistisch wippend Korantexte vor sich her beten („neun Säle, drei Lehrer pro Saal, 70 Schüler pro Lehrer“) an den Beginn, um sie später sachlich zu erklären: Das Wippen befördert das Auswendiglernen (und vermittelt das Gefühl der kosmischen Zeit), die Texte sollen lautlich memoriert werden, ohne inhaltlich verstanden sein zu müssen. Die skeptische Distanz, aus der Korankinder sich einem Phänomen widmet, das eine westliche Sicht häufig nur oberflächlich betrachtet, landet rasch bei seinem Kern – über die Schilderungen der familiären Verhältnisse der Madrasa-Kinder und durch differenzierte historische Exkurse.

So enthüllt Korankinder ohne falschen Eifer, dass sich der hohe Zulauf an die Madrasas einer gravierenden sozialen Unwucht verdankt. Die Koranschulen sind für arme Familien und, nicht selten, Waisen die einzige Möglichkeit auf Bildung überhaupt. Die Konkurrenz von staatlichen und religiösen Schulen geht zurück in die Zeit der britischen Kolonialisation, in der Korankinder unausgesprochen das Trauma eines Landes erkennt, an dessen Verarbeitung der Westen heute kein Interesse zeigt.

Shaheen Dill-Riaz verschweigt in seinem Film nicht, dass es Hemmungen in der intellektuellen Sphäre Bangladeshs gibt, sich mit der Renaissance des Religiösen auseinanderzusetzen. Er leitet daraus keinen fundamentalen Furor zur Aufklärung ab, der Verteidigern der so genannten westlichen Werte hierzulande eignet. Auch wenn der mit persönlichen Betrachtungen an manchen Stellen zu stark durchsetzte Essay den betenden Kinder ästhetisch eher ratlos gegenübersteht – die Kamera fährt die rezitierenden Schülermassen immer nur ab –, lässt Korankinder doch ein Ideal erkennen im Umgang mit der Religion, wie es der Vater des Filmemachers pflegt: als private Angelegenheit, die nicht danach trachtet, einen Kampf damit zu führen. Dafür freilich bedarf es auch einer Ausdehnung der Mittelschicht.


Korankinder Regie: Shaheen Dill-Riaz. Bundesstart am 4. Juni


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Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

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