Das Jahr 1982 ist lange her an diesem milden Februartag. Harald Bretschneider, Jahrgang 1942, sitzt in seinem Büro beim Landeskirchenamt Sachsen im Süden von Dresden. Sein Blick aus dem Erdgeschoss des respektablen Baus geht auf die benachbarte Lukaskirche, die in ihrer Baufälligkeit aus der Zeit gefallen scheint, versonnenes Gestern, geträumtes Morgen. In Bretschneiders Büro regiert das Jetzt, Akten stapeln sich auf dem Schreibtisch, füllen die Schränke. Zeit ist ein knappes Gut im Diktat des Terminplans. Bretschneider kommt von Staatssekretär und Minister, mit denen er vier Stunden gesprochen hat. Sein Fahrer lugt herein, morgen geht es in aller Frühe nach Wetzlar, danach Bonn, 50 Jahre Militärseelsorge, Bretschneider wird mit Angela Merkel sprechen.
Johanna Kalex, Jahrgang 1964, wohnt in einem Haus in der Neustadt, dem Ausgehviertel von Dresden. Im Parterre liegt die Kneipe, die sie betreibt. Im Treppenhaus begrüßt den Besucher der Geruch von kaltem Rauch und geleerten Bierflaschen. Oben in der Wohnung steht ein Tisch aus grobem Holz, die Wände sind farbig, die Einrichtungsgegenstände Erinnerungen an die Ferne, die Johanna Kalex in den neunziger Jahren länger bereist hat, Mittelamerika, Indien. Schwermütig liegt der altersschwache Hund auf dem Boden. Als Kneipenwirtin lebt man in einer anderen Zeit, der Morgen beginnt mittags, die Arbeit um 20 Uhr. Dann öffnet das Trotzdem im Erdgeschoss.
Vor 25 Jahren haben sich die Wege von Johanna Kalex und Harald Bretschneider zum ersten Mal getroffen, heute sind sie längst entwirrt. Was nicht heißt, dass es keine Kreuzungen mehr gibt, Berührungspunkte in der Sache, um die es damals ging und heute auch noch, irgendwie.
Im Februar 1982 begann die Friedensbewegung in der DDR sich zu formieren. Der "Berliner Appell" von Robert Havemann und Rainer Eppelmann war gerade in westdeutschen Zeitungen erschienen, die "Schwerter zu Pflugscharen"-Aufnäher noch nicht verboten. Für den 13. Februar, dem Jahrestag der Bombardierung Dresdens 1945, hatte Johanna Kalex zu einer Demonstration aufgerufen. Weniger aus Kalkül für den Zeitgeist als aus einem Gefühl kindlicher Ernsthaftigkeit heraus. Johanna Kalex war damals 17, gehörte zu einer Gruppe von Jugendlichen, die im Umfeld von Junger Gemeinde, langhaarig und Parka tragend, an einem alternativen Entwurf eines besseren Lebens bastelte. Sie lasen Müll von den Elbwiesen auf, kümmerten sich um ältere Leute; und aus der Empfindung, für ihre Vorstellungen vom richtigen Leben mit Taten eintreten zu müssen, setzte sich die Krankenschwesternschülerin an die Schreibmaschine ihrer Eltern und tippte ein Flugblatt: "Lieber Freund!" Mit dem Aufruf zur schweigenden Versammlung am 13. Februar 1982 um 21.50 Uhr an der Ruine der Frauenkirche wollte die junge Frau ihrem Unmut Luft machen - über die einseitige Kritik an den Pershings des Westens durch die DDR, deren Regierung sie geplante Stationierung von Kurzstreckenwaffen im eigenen Land zuzulassen drohte und in der die Schule vormilitärische Übungen abhielt.
Tausende Menschen fanden sich schließlich zusammen zum "ersten großen und öffentlichen Treffen der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR", wie es auf der gut gemachten Internetseite jugendopposition.de heißt, die das Berliner Matthias-Domaschk-Archiv mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung vor drei Jahren eingerichtet hat. Die genaue Zahl der Teilnehmer ist unklar. In den Stasi-Akten ist von 400-500 Menschen die Rede. Dass es mehr waren, hat Johanna Kalex von Freunden erfahren. Sie selbst saß zum Zeitpunkt des von ihr initiierten Treffens zu Hause, sicherheitshalber. Die Geschichte von der stummen Demonstration war nicht mehr allein ihre Geschichte.
Die Staatssicherheit war auf Johanna Kalex schon aufmerksam geworden am Tag, als sie die ersten Flugblätter auf dem Bauernmarkt in Dresden verteilte. Das war im Oktober 1981. Schnell ermittelten die unsichtbaren Beobachter die Identität des ihnen unbekannten Mädchens. Es folgten Befragungen, Verhöre, die Notlüge von dem Anonymus, von dem sie das Flugblatt bekommen haben wollte, flog auf. Als der Druck zu groß wurde, wandte sich ein Freund von Johanna Kalex an Harald Bretschneider, damals Landesjugendpfarrer. Die Kirche schaltete sich ein, vom Landesjugendpfarrer über den Superintendenten bis zum Bischof, schließlich einigte man sich mit der SED-Bezirksleitung auf einen Kompromiss. Um eine öffentliche, freie Konfrontation mit dem Staat zu vermeiden, wurde zu einem Friedensforum in die Kreuzkirche geladen, Johanna Kalex und ihre Freunde durften an dem Programm mitwirken. Übervoll war die Kirche, 6.000 Menschen, schätzt Bretschneider heute, Westmedien protokollierten zum Teil hitzige Gespräche. Die Versammlung an der Frauenkirche fand trotzdem statt.
Johanna Kalex hat bis heute oft über ihren Aufruf gesprochen. Für sie war das nicht der "viehische Heldenakt", zu dem die Angelegenheit aus der Sicht von Historikern und Journalisten werden kann. Was andere Mut nennen, ist für sie nur: keine Angst. Eigentlich habe sie nie Angst gehabt, auch als Kind nicht, "mir wird schon nichts passieren." Die Gespräche, die in der Stasi-Akte protokolliert sind, etwa mit einem Lehrer der Schwesternschule, zeugen von dieser Selbstsicherheit. Aufrichtig und tapfer bleibt die junge Frau, wo der Lehrer scharf wird, anklagt, die Konterrevolution wittert, den Westen, einen größeren Zusammenhang. Das Gespräch ist, von heute aus betrachtet, ein Dokument der absurden Verhältnisse, geboren aus der Freund-Feind-Logik des SED-Staats. Dabei war Johanna Kalex nur eine Persönlichkeit, wie sie die DDR sich auf dem Papier vorgestellt hat.
In die Erinnerung an den 13. Februar 1982 mischt sich bei Johanna Kalex heute das Gefühl, um etwas betrogen worden sein. Die Diskussionen im Vorfeld liefen unter den Erwachsenen, für sie gab es "Anweisungen, wie ich mich verhalten sollte". Nach dem Auftritt in der Kreuzkirche, bei dem Johanna Kalex und ihre Freunde Warnzeichen hochhielten, wurde sie in einem kircheneigenen Auto nach Hause gefahren. Es blieb der Eindruck, die ganze Sache sei ihr aus der Hand genommen und auch ein bisschen verbogen worden. Das sagt Johanna Kalex nicht böse oder verbittert. Und sie sagt auch: "Natürlich haben die mir damals den Arsch gerettet." Aber wer keine Angst hat, will keinen Schutz.
"Hätten sie das alleine gemacht, wären sie weggefangen worden", sagt Harald Bretschneider über die Aktion von damals. Bretschneider hat sich immer als Dolmetscher der Jugendlichen verstanden, als jemand, der ihre Anliegen weitergab und mögliche Gefährdungen ausschloss. Das habe die junge Frau damals verstanden, "auch wenn Anett Ebischbach sich heute manchmal anders äußert." Wenn er von Johanna Kalex spricht, sagt Harald Bretschneider immer noch Anett Ebischbach. Ebischbach ist ihr Mädchenname, Anett der Name, den ihr die Eltern gegeben haben und der einem frühen Freund nicht gefiel, weshalb er sie fortan Johanna nannte und die anderen auch. Harald Bretschneider hat selbst oft genug erfahren, wie es ist, wenn die eigene Aktivität durch ablehnendes Wohlwollen gebremst wird. Das sei ihm, der schon als Pfarrer auf der Baustelle für einen friedlichen Staat gestritten hat, öfter so gegangen mit höheren Stellen in der Kirche: "Gute Idee, aber das können wir leider nicht machen."
Bei "Schwerter zu Pflugscharen" war das anders, da gab der Kirchensekretär Manfred Stolpe persönlich grünes Licht. Harald Bretschneider bereitete die erste Friedensdekade in der DDR im November 1980 und suchte nach einem Logo, wie man heute sagen würde. Bretschneider wusste schon immer um die Strahlkraft von Symbolen, zehn Jahre zuvor hatte er einen Ton-Bild-Vortrag unter dem Titel "Ohne kleine Leute keine großen Kriege" zusammengestellt. Das Logo für "Schwerter zu Pflugscharen" war geschickt gewählt. Es zeigte einen Mann, der ein Schwert umschmiedete - ein Kunstwerk des unverdächtigen, ja offiziellen sowjetischen Künstlers Jewgenij Wutschetitsch. Von ihm stammte das Ehrenmal in Berlin-Treptow und die riesige Statue Mutter Heimat ruft, die im früheren Stalingrad an die Kriegswende gegen Hitler-Deutschland erinnert. Zudem hatte die Sowjetunion die "Schwerter zu Pflugscharen"-Plastik der UNO geschenkt, und weil sich durch das Zitat aus dem Buch des Propheten Micha herstellen ließ, schien das Logo ideal: eine christliche Botschaft, die durch den Verweis auf den "großen Bruder" schwerlich als Provokation abgetan werden konnte.
Im ersten Jahr wurde das Logo nur als Lesezeichen produziert, für die Friedensdekade 1981 hatte Bretschneider, nachdem Jugendliche sich das Lesezeichen an ihre Jacken geheftet hatten, einen Aufnäher drucken lassen, auf Filz, weil dafür keine Genehmigung erforderlich war. Die hohe Popularität des Zeichens wirkte auch auf kirchenferne Menschen, so dass der Staat schließlich gegen die stilisierte Abbildung eines Denkmals vorging, das er zuvor in seinen eigenen Jugendweihebüchern verbreitet hatte. Die Kirchenleitung gab im Herbst 1982 trotz kontroverser Ansichten unter den Bischöfen und Pfarrern dem staatlichen Druck um des "Friedens willen" nach.
Das Jahr 1982 ist lange her an diesem milden Februartag, eine ferne Zeit, in der Geopolitik etwas Übersichtliches war, die im Feierabend der Gegenwart melancholisch stimmt. Was ist geblieben vom Engagement für den Frieden? "Ich bin Pazifist", sagt Harald Bretschneider, obwohl er von Helmut Schmidt persönlich erfahren durfte, dass dieser das Wettrüsten als einzigen Weg zum Zusammenbruch der Sowjetunion betrachtet hat. Schröders klares "Nein" zum Irak-Krieg habe ihm Bestätigung gegeben, meint Bretschneider und schaut durch das Fenster in seinem Büro zur Lukaskirche. Aber Schröders Friedensliebe ist seit der Kurnaz-Affäre eine zwiespältige Angelegenheit.
"Das hat sich auch gut angefühlt", sagt Johanna Kalex irgendwann über die damalige Zeit, die Wichtigkeit, die der mächtige Staat ihrem Blatt Papier beimaß, die große Wirkung, die man mit so wenig erreichen konnte. Johanna Kalex verspürt noch immer Wut über die laufenden Ungerechtigkeiten in der Welt oder auch nur in Dresden. "Krieg ist Scheiße, das klingt so oberflächlich, aber das würde ich immer noch sagen." Aber wie?
Die Instrumente des Protests haben sich abgenutzt, Gespräche, Aufruf, Demo. Und wenn ein paar hundert Leute kommen, ist es den Lokalnachrichten kaum eine Meldung wert. Nach Gorleben fährt sie noch jedes Jahr, mit ihrer Tochter, die sich gegen Atomkraft engagiert, was die Mutter freut. Klingt wie Widerstands-Tourismus, aber so würde Johanna Kalex das nicht sagen, auch wenn sie ihre Ratlosigkeit nicht verbirgt. "Vor sechs, sieben Jahren waren wir noch sicher, den Castor aufhalten zu können." Heute lässt man sich wegtragen oder wegprügeln. "Das ist nur noch symbolisch", meint Johanna Kalex, und man merkt, wie unbefriedigend die tätige Frau diese Erkenntnis findet.
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