Die Retrospektive dieser 67. Berliner Filmfestspiele steht unter dem Titel Future Imperfect. Science – Fiction – Film. Sie umfasst 31 Filme, weshalb wohl noch nicht mal die Macher auf die Idee kämen, damit ein so großes Genre wie das Science-Fiction-Kino sinnvoll abbilden zu können. Trostlos ist das Unterfangen, insofern die Themenwahl wie eine Werbemaßnahme für die seit vergangenem Sommer geöffnete Ausstellung im Berliner Filmmuseum erscheint (noch bis 23. April!): Things to come. Science – Fiction – Film. Sollte man so was, wenn überhaupt, nicht wenigstens andersrum machen – die Berlinale-Retrospektive als Auftakt zur Ausstellung?
Nun mag Donald Trumps PR-Politik als US-Präsident (und John Hurts Tod) der in der Reihe ge
rts Tod) der in der Reihe gezeigten Verfilmung der neuerdings wieder beliebten George-Orwell-Dystopie 1984 den Eindruck von Gegenwärtigkeit verschaffen. Dennoch steht nicht zu erwarten, dass diese Retrospektive zu den Höhepunkten des Festivals gehören wird, dass Kritikerinnen eine ambitionierte oder großartige Auswahl feiern werden, so wie sie das im letzten Jahr in Locarno getan haben – angesichts der Retrospektive mit Filmen aus den westdeutschen Anfangsjahren: Geliebt und verdrängt. Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland zwischen 1949 bis 1963.Verfluchte LiebeDie Filme der von Olaf Möller kuratierten Auswahl sind seither auf Tour; sie waren in Frankfurt am Main und in Düsseldorf zu sehen, werden ab Ende Februar im Berliner Zeughauskino gezeigt und im März im Wiener Filmmuseum. Sie laufen außerhalb des deutschsprachigen Raums in Italien, Lissabon und Helsinki; Vorführungen in den USA sind geplant. Die Retrospektive ist ein Hit, weil es offenbar gelungen ist, Sensationen des westdeutschen Studiokinos hinter dem Verschlag wiederzuentdecken, hinter den sie ein zum Klischee gewordenes Diktum aus dem Oberhausener Manifest von 1962 gesperrt hat.Warum nun die Berlinale als wichtigstes deutsches Festival diese Reihe nicht veranstaltet hat, ist eine interessante Frage. Denn das, was der Cineast Möller politisch meint – zum Programm gehören auch DEFA-Filme, die von der Bundesrepublik erzählen, wie Martin Hellbergs Das verurteilte Dorf von 1952 –, ließe sich ohne Weiteres als Standortbehauptung einer deutschen Kulturgroßinstitution wie der Filmfestspiele von Berlin deklarieren („Wir sind doch wieder wer gewesen!“): Das scheinbar muffige, reaktionäre, idyllische Kino der Adenauer-Ära erweist sich bei genauem Hinsehen als Fundgrube für Filmfreunde, als Komplex vielfältiger Geschichten und Stile.Und vor allem bedarf es für die Idee der Wiedervorlage des verfemten westdeutschen Studiokinos keiner abgefahrenen Expertise, sondern nur eines Sinns für die cinephilen Bewegungen unserer Zeit. Dann nämlich erscheint Möllers Locarno-Retrospektive als Konsequenz aus der rezenten Arbeit von Filmclubs, die 2015 im Münchner Werkstattkino zu einer Art Klassentreffen zusammenfanden; aus den Nürnberger Hofbauer-Kongressen, die das Interesse am (deutschen) Sex- und Kolportagefilm vergangener Zeiten auf einen Begriff gebracht haben (Freitag 02/2017); aus Dominik Grafs Verbindung zum Genrekino, die im Dokumentarfilm Verfluchte Liebe deutscher Film (mit Johannes F. Sievert) in einer Parallelgeschichte zum Neuen Deutschen Film, zu Wendersklugeschlöndorff resultierte. Verfluchte Liebe deutscher Film lief übrigens vergangenes Jahr auf der Berlinale.Dass die Berlinale nicht auf die Idee kommt, die Locarno hatte, sagt etwas über das deutsche Verhältnis zur Filmgeschichte aus. Das lässt sich zeigen an dem einzigen Film aus Möllers Retrospektive, der als einer der „Berlinale Classics“ in diesem Jahr auch in Berlin zu sehen sein wird: Helmut Käutners Thriller Schwarzer Kies von 1961. Hier ist er angekündigt als „Welterstaufführung der digitalen Fassung im Vorführformat 2K DCP“ – dort wurde er als 35-Millimeter-Kopie gezeigt, also auf dem Material, auf dem er auch gedreht wurde.Der Unterschied beim Trägermedium führt zu einer Debatte, die wichtige kulturpolitische Fragen berührt, hierzulande bislang aber limitiert geführt wird: der Umgang mit dem sogenannten Filmerbe in Zeiten des digitalen Wandels. Grob gesagt, ließen sich dabei zwei Schulen unterscheiden. Auf der einen Seite die Medien-Spezifiker, die Materialisten, die analogen Film auf analogem Film archivieren wollen und digitale Formate als digitale Formate; auf der anderen die Plattform-Agnostiker, die Inhaltisten, denen es gleich ist, ob es sich bei dem Bewegtbild ursprünglich um einen Super-8-Film, ein Videoband oder Digitalformat handelt.Der deutsche Modus Operandi bei der Sicherung des nationalen Filmbestands geht von der zweiten Annahme aus: Archivierung der Bestände meint hierzulande ausschließlich Digitalisierung. Deren Vorteil ist die Zugänglichkeit – die digitalisierte Fassung des bislang nicht auf VHS oder DVD verfügbaren Käutner-Films lässt sich leichter vervielfältigen oder ins Internet stellen, als das bei einer neuen Kopie auf Sicherheitsfilm der Fall gewesen wäre. Mit den Mitteln für die Digitalisierung kann die geldgebende Politik Zeitgenossenschaft beweisen; Präsentationen wie die der 2K-Restauration von Schwarzer Kies schaffen Anlässe mit roten Teppichen.Monika Grütters, die Staatsministerin für Kultur, wird demnächst verkünden, dass der Bund künftig drei Millionen Euro jährlich für die Digitalisierung bereitstellen will. Wenn, wie geplant, Filmförderungsanstalt (FFA) und Länder sich ebenfalls mit Beträgen in dieser Höhe engagieren, kommen gut zehn Millionen Euro pro Jahr zusammen. Das ist eine Steigerung des Etats, mit Blick auf die Realität aber immer noch wenig. Der Präsident des Bundesarchivs, Michael Hollmann, bezifferte den finanziellen Bedarf dafür, die Bestände allein des Bundesarchivs zu digitalisieren, im November bei einer Podiumsdiskussion auf 580 Millionen Euro. Das Gutachten einer Unternehmensberatung aus dem Jahr 2015 kam auf eine ähnliche Summe; in Frankreich stehen 400 Millionen Euro zur Verfügung.Dabei ist aber immer noch unklar, wie kostenintensiv die Pflege und wie sicher die Haltbarkeit von digitalisierten Daten ist. Beim analogen Film geht man bei richtiger Lagerung von 500 Jahren aus, die digitalen Zyklen sind kurzlebiger, was sich an der Schwarzer-Kies-Restaurierung zeigt: 2K – als Angabe für eine Auflösung mit bis zu 2.048 Pixeln in der Breite – wird schon heute vom Standard 4K übertroffen, einem Wert, mit dem mittlerweile das Kaufinteresse des Verbrauchers adressiert wird.Film Preservation CenterZwar hat das Bundesarchiv im vergangenen Jahr endlich seine Praxis beendet, umkopierte Originalfilmrollen zu vernichten oder zu kassieren, wie es in der Behördensprache heißt (Freitag 50/2016). Zugleich soll im Lauf dieses Jahres aber das behördeneigene Kopierwerk geschlossen werden. Damit würde sich die öffentliche Hand des Wissens und der Infrastruktur dafür berauben, künftig noch analoges Filmerbe pflegen zu können. In Schweden hat der Staat das letzte Kopierwerk übernommen, als es zur Disposition stand, weil der Markt das Interesse an Technik und Material verloren hatte. In Österreich wird an der Eröffnung eines nationalen Film Preservation Center inklusive Kopierwerk gearbeitet.Die Diskussion in Deutschland sagt derweil immer nur „Digitalisierung“, wenn vom Filmerbe die Rede ist. Die einzige Partei, die in diesem Punkt eine abweichende Position behauptet, ist die Linke. Der Antrag, die Sicherung des Filmerbes mit jährlich 30 Millionen Euro zu fördern und das Kopierwerk des Bundesarchivs nicht zu schließen, ist im Ausschuss für Kultur und Medien Ende Januar, wie üblich, mit der Koalitionsmehrheit abgelehnt worden. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn Harald Petzold, medienpolitischer Sprecher der Linksfraktion, den Antrag am kommenden Donnerstagabend, einen Kilometer vom Berlinale-Trubel entfernt, im Bundestag noch einmal vorträgt.Für Johannes Selle, den Mann der konservativen CDU im Kulturausschuss, assoziiert sich mit der Idee, dass die öffentliche Hand etwas vorhält, was der Markt nicht mehr hergibt, zuerst das Bild vom „Rattenschwanz“: Gegen die Anstrengung, die Kultur von über 100 Jahren analogem Kino bewahren zu wollen, spricht in dieser Logik, dass man sie unternehmen müsste. Das ist das Niveau der deutschen Debatte über eine heikle Frage und eine ungewisse Zukunft. Immerhin, so betrachtet erscheint die Berlinale-Retrospektive prophetisch: future imperfect.
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