Mein Jobst heißt Martin

Gerüchtekoch Andreas Maiers bisweilen plumper Versuch, mit "Kirillow" einen politischen Roman zu erzählen

Der Schriftsteller Andreas Maier ist kürzlich gleich zweimal ins Gerede gekommen. Zum einen soll er den Posten des Potsdamer Stadtschreibers, für den ihm eine Wohnung in einer Plattenbausiedlung zur Verfügung gestellt worden wäre, mit dem Hinweis abgelehnt haben, andere Städte pflegten ihre Schreiber in Schlössern unterzubringen. Da Maier darauf bestand, sich nie in dieser Richtung geäußert zu haben, sagte er, der nun auf Initiative von Potsdamer Gewerbe Treibenden eine Wohnung in der Innenstadt beziehen wird, den Potsdamer Posten zwischenzeitlich tatsächlich ab. Zum anderen hieß es, Maier würde im Gefolge seines bisherigen Lektors Thorsten Ahrendt den Suhrkamp-Verlag in Richtung Wallstein verlassen, was sich als falsch erwies, da sein dritter Roman Kirillow gerade bei Suhrkamp herausgekommen ist.

Die beiden Fälle sind nicht ohne Ironie, weil Maier literarisch ein Chef in der Gerüchteküche ist. Im Mittelpunkt seines viel gelobten Debüts Wäldchestag (2000) stand eine Randerscheinung, deren Bild aus dem erstand, was andere über sie zu wissen glaubten. Ein Panorama der Kolportage, entfaltet in der indirekten Rede, die - keiner hat das besser gezeigt als Thomas Bernhard, von dem Maier sich nicht unbeeindruckt zeigt - ein fast musikalisches Mittel zur Wirklichkeitsverunklarung ist. Wo der Indikativ mit beiden Beinen im Leben steht, schwebt der Konjunktiv über dem Boden der Realität.

In Maiers jüngstem Buch Kirillow ist aus dem Schweben ein manieriertes Hüpfen geworden, bei dem sich Wirklichkeitsform und Möglichkeitsmodus munter abwechseln ("Sie: Klar wolle sie da hin. Das möchte sie unbedingt erleben. Wann habe sie zu so etwas schon mal die Gelegenheit?") In dem unmotivierten Hin und Her kann man ein Beispiel für Maiers Scheitern erkennen, von dem Streben nach tätiger Einmischung in die Politik der Welt aus der Distanz der indirekten Rede erzählen zu wollen.

Kirillow ist auf eine eigenartige Weise misslungen, sein Problem ist die Richtungslosigkeit, mit der mal auf dieses, mal auf jenes Einzelteil zugesteuert wird, ohne dass daraus ein Ganzes werden würde. So setzt uns der Prolog auf die Spur von Frank Kober, einem Studenten und mysteriösen Bewohner des Mietshauses Kellerstraße 17 in Frankfurt-Ginnheim. Das Geheimnishafte an Kober speist sich aus seiner Abwesenheit, die Maier durch den Klatsch der anderen penibel aufgelisteten Hausbewohner besetzt. Wir lernen Frau Badinski (2. OG links) kennen, das Privat-Dozenten-Ehepaar Koch (3. OG links) oder Herrn Böhler und seine leicht verrückte Frau, geborene de Vien (3. OG rechts), und es mag in dem Wesen eines Prologs liegen, dass all diese Figuren im weiteren Verlauf eine so geringe Rolle spielen wie das Haus in der Kellerstraße. Da aber selbst Frank Kober in den drei Kapiteln von Kirillow mehr unter- als auftaucht, fragt man sich, wieso diese Figur dann mit so viel Suspense aufgeladen wird: Im Fernsehen haben die Hausbewohner aus der Kellerstraße ihren undurchschaubaren Mitmieter Kober wieder gesehen, wird am Anfang geraunt - die Auflösung am Ende entpuppt sich als schale Pointe, weil sich der Roman für Kober eigentlich nicht interessiert.

Kober ist der Link in eine Gruppe studierender Leute um Anja und Julian Nagel, die "Landtagsabgeordnetengeschwister", wie es einmal umständlich unrichtig heißt, denn beide sind die Kinder des "MdL Dr. Volker Nagel". Anja ist die Freundin von Kober, gemeinsam kümmern sie sich um eine gewisse Frau Gerber, deren Rolle unklar bleibt. Es sei denn, man begreift Altenpflege als pragmatischen Gegenentwurf zum scheinbar revolutionären Ringelpiez in Gorleben, auf den Kirillow zielstrebig zuläuft ("Sie: Wahrscheinlich nichts. Gar nichts bleibt übrig. Es bleibt übrig, daß wir bei Frau Gerber bleiben. Wir bleiben bei diesem Menschen. Wir machen keine Politik. Wir machen gar nichts.") Für Julian, den heimlichen Protagonisten des Romans, fungiert der ein wenig ältere Kober als Kontrastmittel seines idealistischen Aufbegehrens, weil Kober anscheinend seinen Frieden mit dem Umständen gemacht hat: "Früher warst du doch nicht so." Was früher war, und warum früher vorbei ist, bleibt offen.

Julians Marsch in die Revolution ist dagegen besser belegt. Auf dem Geburtstag seines Vaters zettelt er einen Disput mit einem saturierten Kollegen des Vaters an, den Kober durch Selbstverletzung abrupt und zur Verwirrung aller beendet. Stufe zwei der politischen Mobilmachung bildet nächtliches Gullideckel-in-Vorgärten-und-auf-Autodächer-Schmeißen, "eine Störung der Ordnung", die Maier in gleich vier Versionen schildert. Wirklich erhellend sind die verschiedenen Sichtweisen nicht, sie scheinen eher der Vielzahl an Personal geschuldet, das in Kirillow vorkommt: "Der Straßenkämpfer", Heinrich Pagel, Andreas Beyer, Eva Bieroth, Michaela oder ein Mensch, der mal "Jobst" und mal "Jobst alias Martin" heißt, ohne dass man wüsste, was sich hinter dieser Namensänderung verbirgt. Dazu gesellen sich noch einmal etwa genauso viele Russen - Mischa, Boris, Nastja, Olga, Anton oder Herr Iwanow - die reichlich ungalant eingeführt werden. Gleich am Anfang berichtet Frau Gerber: "Wenn die Russen Durst haben, dann sagen sie nicht: Ich habe Durst, sondern sie sagen: Ich will trinken." Ein paar Zeilen darauf klingelt´s an der Tür, und wer steht davor: ein paar Russen, irgendwie vermittelt über einen Freund von Anja Nagel, der in Chabarowsk geheiratet hat und später mit von der Partie ist. Die Russen erklären uns immerhin, warum der Roman Kirillow heißt, denn da, wo sie herkommen, gibt es einen Andrej Kirillow, der mysteriös ist und auch sonst so aussieht wie Frank Kober ("Julian, zu Frank: Jetzt hast du einen Doppelgänger bekommen, einen in Russland. Kober wußte dazu nichts zu sagen ...").

Kirillow (siehe Dostojewskis Dämonen, Nihilismus) hat ein so genanntes "Traktat über den Weltzustand" verfasst, das zu dem Schluss kommt, das Unglück des Menschen resultiere aus der Gesellschaft, die er mit anderen bilde, dem System, das eigendynamisch funktioniere und sich fortentwickle. Für Julian Nagel folgt daraus, dass die einzige Form sinnvollen Widerstands die Selbstabschaffung sei, die auf der Bühne von Gorleben dann auch versucht wird. Irritierenderweise deklariert Maier diese Tat, die einer Logik der Verweigerung entstammt, als "Selbstmordanschlag", der doch dem Feld des Terrorismus zugehört.

Es ließen sich noch einige Beispiele für die mangelnde Ausgewogenheit der Konzeption zitieren. So lebt der Roman lange Zeit auffallend keusch, ehe, kurz vor Schluss, in rasender Geschwindigkeit das Abc der Erotik durchbuchstabiert wird ("Vor allem wollte er mit Rebekka schlafen, und Rebekka umgekehrt mit ihm.") So sorgt die "Enttarnung", soll heißen die Entdeckung, dass der unauffällige Lohmann aus Kobers Haus - der wie sich herausstellt aber Filme von Truffaut mag und das Frankfurter Theater - in seiner Plastik-Tüte Porno-Hefte spazieren trägt, unter den aufgeklärten Jugendlichen des 21. Jahrhunderts für helle Aufregung ("perverser Spießer aus der Kaiserstraße").

Am unangenehmsten an Kirillow aber ist die Plumpheit, mit der all die Figuren nichts anderes machen als sich in wechselnden Lokalitäten durch die Frankfurter Nacht zu trinken, um dabei immer wieder zufällig aufeinander zu treffen. So wenig dramaturgische Raffinesse kennt man sonst nur aus dem jungen deutschen Film.

Andreas Maier: Kirillow. Roman. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, 348 S., 19,80 EUR


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