In Heinz Brinkmanns Dokumentarfilm Usedom – Der freie Blick aufs Meer gibt es gleich zu Beginn einen unscheinbaren, aber wirkungsvollen Moment. Der Film hat sich der Ostseeinsel angenähert durch Bilder aus dem Heute: vom Stau auf einer der Peenebrücken, von vollen Stränden, an denen die Leute in der Sonne dösen. Von da geht es zurück in die Geschichte, die Anfänge des Tourismus, der im 19. Jahrhundert noch ein Vergnügen der höheren Stände war.
Gezeigt werden Postkarten aus der Zeit, als von „Kaiserbädern“ gesprochen wurde. Und dann sagt die Erzählerstimme des Schauspielers Hans-Uwe Bauer: „Auf den Postkarten mit den Damen und Herren in ihren eleganten Garderoben hatte ich immer die Menschen vermisst, die mit ihrer Arbeit dafür sorgten, dass eben diese eleganten Damen und Herren die schönste Zeit des Jahres in den Seebädern erleben konnten. Und ich fragte mich, wer diese Menschen wohl waren, woher sie kamen und wie sie lebten.“
Diese Sätze lenken im Folgenden den Blick. Auf den Aufnahmen eines Grand Hotels danach sind die tollen Fassaden oder die Gäste auf der Terrasse mit einem Male uninteressant; ins Auge sticht vielmehr der Kellner, der sich dort bewegt, der Dienstleister, die Assistenzfigur, die als Komparse der Szenerie gewöhnlich übersehen würde.
Dass Brinkmann den, wie es früher gehießen hätte, „Werktätigen“ Raum gibt in den Bildern, die er sich von Usedom macht, hat mit seinem Werdegang zu tun. 1948 in Heringsdorf geboren, studierte er Ende der 60er Jahre an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg.
Er arbeitete für die DEFA-Wochenschau Der Augenzeuge und in den 80er Jahren in der Gruppe Kinobox im DEFA-Studio für Dokumentarfilme. Der Satz Jürgen Böttchers, dass, wenn man in einem Arbeiter- und Bauernstaat lebe, man auch Filme über Arbeiter und Bauern machen muss, ist eine Art Credo von Brinkmanns Filmen.Alltag mit Widerständen heißt eine seiner frühen Arbeiten von 1974, die das Interesse des damals schon international bekannten Böttchers weckte und in dem es um die Arbeiterinnen an den Hochbrandöfen des Kombinats für elektronische Bauelemente in Teltow ging.
Die Karbid-Fabrik von 1988 spielt in Buna, wo in den Erzählungen eines Vorgesetzten die Mängel der DDR-Wirtschaft nicht zu überhören sind. Und wo Arbeiter von der harten, für Mensch und Umwelt gefährlichen Arbeit einer antiquierten Kunststoffproduktion ohne Erdöl berichten mit dem Pathos des Pragmatismus. Für 1993 wird der Einbau eines neuen Filters annonciert, um einem zeitgemäßen Bewusstsein für Ökologie zu entsprechen – eine Planung, der, wie man heute weiß, die historischen Großereignisse einen Strich durch die Rechnung gemacht haben. Brinkmanns Filme sind um diesen Bruch herum gruppiert, um den Wechsel der Zeiten, den 1989/90 bewirkt hat. Am schönsten wohl in Komm in den Garten, einer Gemeinschaftsarbeit mit Jochen Wisotzki, einem der berührendsten Filme aus diesem Interlude der Weltgeschichte.
Drei Männer fabulieren
Das Übergangsjahr zwischen DDR-Ende und Gesamtdeutschlands Anfang hat wohl auch deshalb so bemerkenswerte dokumentarische Arbeiten hervorgebracht (Petra Tschörtners Berlin-Prenzlauer Berg, Gerd Kroskes Kehraus), weil die neue Freiheit mit großem Elan ausgekostet werden wollte. Komm in den Garten erzählt von drei befreundeten Männern, die immer schon zu denen gehört haben, die in keiner Ordnung Karriere machen, weil sie zu spröde, zweifelbeladen, widersprüchlich sind: „Alfred, der stellungslose Journalist, Dieter, der trockene Maler und Micha, der trinkende Wirtschaftshistoriker“, wie das Personal am Anfang von Brinkmanns Sequel Der Irrgarten von 1994 charakterisiert wird.
Die drei ungleichen und sich in ihrem Sinn für Theatralität doch so ähnlichen Männer, die miteinander in einer altmodischen, der Gegenwart entrückten, dabei aber immer einander zugewandten Fabulierfreude reden, sind Menschen, die wohl nur im Glanz der Unbestimmtheit des Übergangsjahres 1989/90 leuchten konnten. Die in einem Berlin der durch die DDR verlängerten Nachkriegszeit leben, in dem sie sich heute keine Wohnung mehr leisten könnten. Am Ende, wenn die Fernsehübertragung einer Volkskammer-Sitzung den Beitritt zum Westen akklamiert, verzagt der in seiner Zartheit so berührende Alfred: „Die DDR wird verkauft.“
Der Kellner in Usedom – Der freie Blick aufs Meer, auf den der Off-Text aufmerksam macht, ist der Azubi Ernest Bruno, dessen Familie auf der polnischen Seite der geteilten Stadt Świnoujście lebt. Der junge Mann ist von der Erinnerung an die kurze Lücke, die der Herbst 1989 gelassen hat, weit entfernt: ein gutgelaunter Agent der Gegenwart, für den der Job im Hotel ein Versprechen ist, das keine deutschen Angestellten mehr lockt. Usedom erzählt leichthändig von einer globalisierten Welt, die schon immer so war – die Migrationsbewegungen von einst (Brunos Großeltern sind nach 1945 umgesiedelte Polen aus dem Osten) finden ihr Echo im Heute, wo mehr als ein Dutzend Nationalitäten in die Grundschule gehen.
Angesichts der politischen Aufwallungen der Jetztzeit wirkt Usedom fast ein wenig zu freundlich. Aber wenn Brinkmanns Film den Nacktbader Dietmar trifft, der im Vorgängerfilm Usedom – Ein deutsches Inselleben, Teil 1 von 1993 als Eisverkäufer einer ungewissen Zukunft entgegenblickt, ist etwas spürbar von proletarischer List: Ein Mann, der freudig sich bescheidet, der Jahre vor dem Erreichen der Pensionsgrenze in Rente gegangen ist. Oder: Der seine Arbeitskraft den Gesetzmäßigkeiten des Kapitals entzogen hat, um zufrieden am Strand zu liegen. Denn: „Hätten sich welche vor uns postiert, hätten wir protestiert. Der Blick zum Meer muss schon frei sein.“
Info
Usedom – Der freie Blick aufs Meer Heinz Brinkmann D 2017, 95 Min.
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