Freitag: Zur Frage der Himmelsrichtungen: Können nur Westler Ostgeschichten erzählen?
SANDRA PRECHTEL: Ich mag diese Diskussionen nicht, wir Westler würden den Ostlern ihre Geschichte wegnehmen, das finde ich absurd. Ich würde mir umgekehrt wünschen, dass es vielmehr Leute mit einer Ostsozialisation gäbe, die sich der Bundesrepublik annehmen, mit ihrem Blick darauf gucken und mir ein anderes Bild zurückgeben würden.
Haben Sie während der Arbeit zu spüren bekommen, dass Sie Westler sind?
SASCHA HILPERT: Die erste Begegnung mit Wolfgang Lötzsch war schon interessant. Er hatte nicht viele Fragen an uns, aber eine, die ihm sehr wichtig war und schnell gestellt wurde: Kommt ihr aus dem Osten oder aus dem Westen? Wie auch immer man das interpretieren mag. Ich finde es problematisch, sich in Diskussionen des Vorwurfs erwehren zu müssen, dass man da als arrogante Westfigur aufläuft und eine Geschichte ausbeutet, um sich selbst zu verwirklichen - der Donnersmarck. Beim Drehen habe ich, etwa wenn viele Freunde von Lötzsch dabei waren, manchmal das Gefühl gehabt: Für die bin ich jetzt der Donnersmarck.
Wie hat sich das auf die Arbeit ausgewirkt?
PRECHTEL: Was produktiv und spannend war, weil es der Geschichte eine andere Dynamik gegeben hat: dass jemand wie Wolfgang Lötzsch plötzlich in eine Identifikation mit dem Staat kommt, der ihn fertiggemacht hat. Vielleicht würde er sich mit einem Ostjournalisten schnell einigen auf den Feind, den Staat. Bei uns war einerseits der Staat der Feind, andererseits hat er im Gegensatz zu uns mit einem Stasi-Major eine gemeinsame Geschichte, die beide hält. Das waren seltsame Momente von Sympathie mit denen, die ihm das Leben schwer gemacht haben.
HILPERT: Wir haben das irgendwann Stockholm-Syndrom genannt, dass Herkunft in dem Moment wichtiger ist, wenn wir dort sitzen - im Westen sozialisiert, eine Generation jünger. Er grenzt sich ja stark vom Westen ab, weil er in dieser Geschichte so gefangen ist. Er kann gar nicht anders. Heute ist er persona grata in Chemnitz. Metaphorisch gesprochen ist er einmal um die Welt gereist, nachdem die Mauer offen war, und er kommt wieder an und hat sein Glück da gefunden, wo das Unglück eigentlich begann. In Chemnitz, am Glücksberg, so heißt die Straße. Nun muss er das verteidigen, weil das seine Welt ist.
Der Film zeigt aber, dass diese Reibung fruchtbar sein kann.
HILPERT: Lötzsch hat uns Naivität im Blick auf die politische Wirklichkeit DDR unterstellt: Das kennt ihr alles nicht. Das ist aber eine Herausforderung an ihn, genauer zu erklären, ganz vorne anzufangen, das war von ungemeiner Wichtigkeit.
Haben Sie umgekehrt den Eindruck, auch Lötzsch etwas "erklärt" zu haben?
PRECHTEL: Er hatte vorher bestimmt mehr Angst, dass die Grautöne nicht gesehen werden, die bei ihm eine Rolle spielen, weil es auch in den Westmedien ein klares Freund-Feind-Schema gibt. Lötzsch hat irgendwann einen Pakt mit der Staatsicherheit geschlossen, keine Verpflichtungserklärung, aus dem pragmatischen Gedanken: Jetzt komme ich mit diesem Kampf nicht mehr weiter. Er konnte vor der Kamera zugeben, dass er irgendwann in die Partei gegangen ist, weil er müde geworden war. Und auch, dass er Scham verspürt zu sagen: Ich konnte nicht mehr in dieser reinen Oppositionshaltung verharren. Die Scham war da, obwohl er nichts getan hatte, wofür er seine Widerstandskraft verraten hätte. Bei der Vorführung in Leipzig saß er dann im Zuschauerraum und hat gemerkt hat: Die Leute reagieren darauf mit Wohlwollen, da geht nicht sofort die Schublade IM auf. Vielmehr haben sie mit Sympathie aufgenommen, dass er diese Schwäche zugegeben hat. Das hat ihm ein Stück Vertrauen gegeben, war mein Gefühl.
Klingt nach Versöhnung, wie Wolfgang Thierse sich das vorgestellt hat: sich einander die Geschichten erzählen.
HILPERT: Ach, Versöhnung. Da geht´s mir zu weit.
PRECHTEL: Finde ich nicht. Ich meine schon, dass der Satz Gültigkeit hat. Für Wolfgang Lötzsch war der Film eine Genugtuung, eine späte Wiedergutmachung, die er verdient hat. Für jemanden wie Stasi-Generalmajor Engelhardt ist jetzt erst der Zeitpunkt gekommen, an dem er sich wieder rauswagt und denkt, er könne noch mal seinen Blick auf die Geschichte zeigen. Da hat man keine Ahnung, ob das Interview bei ihm etwas ausgelöst hat. Aber ich habe bei mir gemerkt: Ich wollte auch bei so jemandem daran glauben, dass es Schuldeinsicht oder wenigstens Selbstaufmerksamkeit gibt. Wenn ich mir anhöre, wie ich da gefragt habe, wie ich immer wieder nachgefragt habe, dann stelle ich fest, wie erschüttert ich war, dass ich gescheitert bin an der Blindheit sich selbst und dem eigenen Handeln gegenüber. Und trotzdem denke ich, diese Geschichte, auch seine, zu erzählen, war wichtig.
Muss die deutsche Einheit überhaupt als Versöhnungsgeschichte erzählt werden? Man muss die Unterschiede ja nicht ignorieren, aber das Leben war eben anders. Bei Donnersmarck endet der Wunsch nach Versöhnung in unendlichem Kitsch.
HILPERT: Dieses Herausstellen, dass der westdeutsche Filmemacher einen Ostdeutschen befragt - davon muss man wegkommen. Ich halte es für Zufall, dass wir jetzt diesen Stoff entdeckt haben. Es geht um diese Geschichte, und nicht um den Blick vom Westen auf den Osten. Dass das für Wolfgang Lötzsch in gewisser Weise von Bedeutung war, ist wieder etwas anderes. Aber irgendwann ist es irrelevant. Da muss man den Thierse raushalten und den Willy Brandt auch, und mit Versöhnung hat das schon gar nichts zu tun, sondern es ist dann im Jahr 2005 passiert. Alles andere finde ich konstruiert.
PRECHTEL: Versöhnung ist das falsche Wort. Bei mir geht´s um die Klärung meines eigenen verzerrten Blicks auf die DDR. In meiner Familie gab´s eine Spannung zwischen einem Vater, der aus einem Verteidigungsreflex heraus ein Salon-Sozialist war und das Totalitäre an der DDR nicht sehen wollte. Und einer Mutter, die das klar gesehen hat. Ich habe eine Bewegung von dieser Sympathie hin zu der kritischen Haltung gemacht. Als ich nach Berlin kam, gab es eine wohlwollende Neugierde. Bei Ostlern würde man das Ostalgie nennen, eine Nostalgie, die sich auf ästhetische Phänomene bezieht. Man kehrt in seine Kindheit zurück, weil hier so viel aus den siebziger Jahren übrig geblieben ist. Von diesem ästhetischen Blick musste ich erst auf einen politischen kommen.
Auch wenn wir die ganze Zeit von nichts anderem sprechen: Wollen Sie die Ost-West-Diskussion überhaupt führen?
HILPERT: Man sucht die spannende Geschichte. Die kann in Bangladesh bei den Eisenfressern stattfinden, aber auch in Chemnitz. Ich habe das als etwas Übertragenes begriffen, für mich waren das immer die verpassten Chancen eines Lebens, das ist mein Leitmotiv dieses Films. Die verpassten Chancen eines Lebens und die Unmöglichkeit, sie nachzuholen. Das kann ein politischer Kampf sein. An dem Rennfahrer Lötzsch, der körperlich mit seinem Rad gegen das System gekämpft hat, kann man das wunderbar zeigen. Ein moderner Sisyphos.
Der Film ist historisch genau und trotzdem universell. Er erzählt die Stasi nicht, wie die Stasi zumeist erzählt wird, sondern macht ein zeitloses Drama daraus.
PRECHTEL: Ein Kritiker hat den schönen Satz geschrieben, das Interview mit dem Stasi-Major sei nicht mit dem Gestus des Überführens geführt. Das würde ich für den ganzen Film beanspruchen. Zumindest zeigt das die Resonanz, die wir erfahren. Natürlich war die Gefahr der Überheblichkeit da, im sicheren System aufgewachsen zu sein, wo sich diese Gewissensfragen so nicht gestellt haben. Davor ist man nicht gefeit.
Wie wappnet man sich gegen die tradierten Erzählmuster des Überführens?
HILPERT: Wenn man einen ganzen Operativen Vorgang studiert, 1.500 Seiten, dann sieht man: Da spielen noch ganz andere Kräfte rein. In diesem Fall der Deutsche Turn- und Sportbund und die Machtfigur Manfred Ewald, und auch da wollten wir unserem Generalmajor gerecht werden, das war wichtig. Dass man die Wende oder Läuterung in seinem Handeln nachvollziehbar macht. Er, der verantwortlich ist für den OV und die Inhaftierung, kann ab einem gewissen Punkt tatsächlich Respekt gegenüber diesem sportlichen Kampf äußern und will Lötzsch wieder in den "Schoß der sozialistischen Familie" holen. Das macht er dann, wenn Lötzsch aus seiner Sicht gebrochen ist.
PRECHTEL: Unsere erste Dramaturgin, die aus dem Osten kam, hat gesagt, dass es ihr es wichtig sei, den Mythos zu brechen, den die Akten erzählen - jedes Leben nur als Marionette an den Fäden der Stasi. Wenn man die 1.500 Seiten liest, könnte man das denken. Aber erzählt man das? Oder erzählt man, dass es ein Eigenleben gegeben hat? Dass es die Wahrheit der Akten gibt und dass die nicht unbedingt mit der Wahrheit von Lötzsch übereinstimmt? Wir haben das so gelöst, dass man ihn heute bei alltäglichen Verrichtungen sieht, genau dabei, wo die Stasi draufgeguckt hat. Und dazu werden die Aktentexte verlesen. Da entsteht eine Schere zwischen Bild und Text.
Ein ästhetischer Umgang mit der Sprache der Akten.
PRECHTEL: Das klingt jetzt zynisch, aber wir haben Stellen gefunden, die eine gewisse Poesie haben. Gerade von Nachbarn, die Beobachtungen aufgeschrieben haben, gibt es Stilblüten mit eigener poetischer Kraft.
Die Akten als ein Fall von Literatur?
HILPERT: Es gibt Bücher, die literaturwissenschaftliche Untersuchungen gemacht haben mit der Sprache der Staatssicherheit. Letztlich ist die einfältig und repetitiv, das liest sich unglaublich anstrengend, eine so runter reduzierte und verbeamtete Sprache, die eigentlich unerträglich ist. Wir haben lange überlegt, wie man mit den Fragmenten umgeht, die an Bizarrheit nicht zu übertreffen sind. Und dafür braucht man keinen Dachboden und keine Schreibmaschine, sie werden aus dem Off verlesen und stehen dann gegen das Bild, in dem Wolfgang Lötzsch Rasen mäht. Das reicht komplett aus.
Diesen Kontrast findet man aber wieder nur im Osten.
HILPERT: Die Geschichten von Einzelgängern, die ein System irgendwann zu Ausgestoßenen erklärt hat, die aber nicht klassische politische Dissidenten sind, sind im Osten natürlich leichter zu finden. In 20 Jahren ist Jan Ullrich als eine komplette Geschichte erzählbar, dann haben wir so eine Geschichte im Westen; mit umgedrehten Vorzeichen.
Was ist mit Birgit Dressel, der westdeutschen Siebenkämpferin, die 1987 völlig zugedopt stirbt?
HILPERT: Die Bigotterie im Hinblick auf das Sportsystem war im Westen keinen Deut geringer. In der BRD war es diffiziler und bricht jetzt nach und nach auf. Was steckt dahinter, wenn eine Uniklinik wie in Freiburg in ein Dopingsystem verfangen ist und das wahrscheinlich mit Sponsorenwissen geschehen ist - große deutsche Konzerne, die vorher Staatskonzerne waren? Das aufzuarbeiten dauert mindestens noch 10 Jahre.
PRECHTEL: Vielleicht ist es kein Zufall, dass alle Tragödien, die im Kino erzählt werden aus bundesrepublikanischer Zeit, von den Jahren um ´68 handeln. Warum macht jemand wie Andres Veiel den zweiten Film über die RAF? Dass es dieser Zeit, die rauf und runter erzählt wurde, immer noch bedarf, spricht dafür, dass es die einzige Periode ist, in der es Fallhöhen, Tragik gab.
Eine Geschichte, die sich dem Erzählen entzieht, ist die von Detlev Kletzin, eine berührende Fußnote in dem Film. Lötzsch gewinnt ein Rennen, das er nicht gewinnen soll, die Funktionäre sagen, da geht keiner mit aufs Podium, Kletzin macht das trotzdem und damit ist seine Karriere zu Ende.
HILPERT: Kletzin ist ein kleiner, stiller Held, der zeigt, dass es keine Geschichten gibt, wo einer Held durch und durch ist. Lötzsch ist nur ein Held, weil er Kämpfer an seiner Seite hat. Er hatte Frauen, die ihn unterstützt haben, die ihn durch die Beziehung stark gemacht haben, und er hatte Edelhelfer selbst im Funktionärsbereich wie Wolfgang Schoppe. Und Detlev Kletzin ist auch einer, der Mut bewiesen hat. Wir haben versucht ihn zu finden. Aber wir wissen nicht mehr von ihm, als dass er an diesem entscheidenden Olympia-Qualifikationsrennen in Falkenberg aufs Podium gegangen ist.
PRECHTEL: An Lötzschs Geschichte ist irre zu sehen, welche Kreise ein einziger Fall gezogen hat, wie viele Menschen von seiner Tragödie betroffen waren, seine Frauen und alle Leute, die mit ihm zu tun hatten, indem der Schaden, der bei ihm angerichtet wurde, an sie weitergegeben wurde. Man hat sich mit ihm loyal erklärt und dafür gebüßt, das finde ich faszinierend.
Das Gespräch führte Matthias Dell
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