Die 0:3-Niederlage von Bayern München am vergangenen Wochenende bei Werder Bremen bedeutete nach einer turbulenten Woche vor allem eines: Oliver Kahn hatte 0:3 verloren. Am Samstag zuvor waren Kahn in der Partie gegen den 1. FC Köln zwei Patzer unterlaufen, am Freitag hatte Bundestrainer Jürgen Klinsmann überraschend frühzeitig seine Entscheidung für die Nummer eins im deutschen Tor bei der WM bekannt gegeben, die nicht Oliver Kahn hieß, sondern Jens Lehmann. Vor dem Spiel musste sich Kahn Häme von den Bremer Anhängern gefallen lassen. Nach dem Spiel waren die Sprechchöre verstummt, stattdessen zeigten die Fernsehkameras Bilder, auf denen die Bremer Nationalspieler Miroslav Klose und Tim Borowski auf Kahn zugingen, um ihm vermutlich Trost zu spenden.
Nichts musste für Oliver Kahn, wie wir ihn kennen, demütigender sein als das Mitleid seiner Nationalmannschaftskollegen. Dass Kahn bewundert, aber nicht geliebt wurde, hing immer mit seiner Ausstrahlung zusammen, die zugleich Bedingung seines großen Erfolges war. Kahn war ein Besessener, dessen größte Stärke der unbedingte Wille zum Sieg war, der unbedingte Wille, der Beste zu sein. In dieser Hinsicht war er tatsächlich ein "Titan", also ein Über- und damit eben Nicht-Mensch. Wie sehr hätte man sich gewünscht, dass er wenigstens in einem Interview außerhalb des Spielfeldes einmal von seinem Ehrgeiz hätte lassen können, dass er einen Witz machen würde. Aber Kahn steckte immer und zu jederzeit in dem Film, zu dem er seine Arbeit inszenierte. Das Maximum an Leistung hieß bei ihm bezeichnenderweise nicht hundert, sondern tausend Prozent.
Kahns unbändiger Ehrgeiz hat ihn an den Abgrund gebracht, in den er nach Klinsmanns Entscheidung gefallen ist. Schon nach der WM 2002, die unbestritten seine WM gewesen ist und die er, wenn das Schicksal es wider alle fußballerische Gerechtigkeit gut mit ihm gemeint hätte, mit dem Titelgewinn hätte krönen müssen, hatte seine Form nachgelassen. Kahn war damals 33 Jahre alt, und wäre er etwas gelassener, hätte er merken können, als Reporter und Trainer nach den ersten Fehlern begannen, bei jedem Tor seine Unschuld zu beteuern, dass seine große Zeit vorüber war. Er hätte wissen müssen, dass er nicht jünger wird und nicht besser, und dass es an der Zeit wäre, einem Anderen die prestigeträchtige Aufgabe als Nationaltorwart zu überlassen. Kahn war immer noch ein guter Torwart, aber nicht immer der überragende und damit nicht mehr Kahn. Womöglich wäre die Einsicht leichter gefallen, wenn die kommende WM nicht in Deutschland stattfinden würde.
Der Torhüterposten ist der kontinuitätsverheißendste und ungerechteste zugleich, er kommt einer Verbeamtung gleich, bei der das einzige Risiko die mitunter lebenslange Probezeit ist. Oliver Kahn hat das selbst erfahren, musste er sich doch gedulden, bis Vorgänger Andreas Köpke abtrat, der sich wiederum über Jahre hinter Bodo Illgner bescheiden musste. Torhüter sind wie Päpste, sie scheiden in der Regel nur natürlich aus dem Amt.
Das Positive an Klinsmanns Entscheidung für Jens Lehmann liegt darin, dass sie möglich ist - gegen alles Gerede vom Meinungs- und Machtkartell aus Bild-Zeitung, Bayern München und Franz Beckenbauer. Das Unangenehme an ihr besteht im Umgang mit Kahn. Populistischer hätte der Zeitpunkt der Verkündung nicht gewählt sein können, wiewohl Klinsmann immer beteuert hat, die vergangenen zwei Jahre zur Grundlage zu nehmen und nicht die Momentaufnahme. Letztere spricht aber für seine Wahl: Einer miesen Woche für Kahn stand das achte Zu-Null-Spiel Lehmanns in der Champions League gegenüber. Dass Lehmann am Wochenende mit Arsenal London ebenfalls verloren hat, interessiert nun keinen mehr.
Mehr noch als der Zeitpunkt der Entscheidung befremdete die zuvor geführte Debatte. Lehmanns nicht nachlassende Forderung, die eigentliche Nummer eins im deutschen Tor zu sein, wäre Grund genug gewesen, ihn nie dazu zu machen. Stattdessen hat Klinsmann sein Modell, um jeden der elf Plätze innerhalb der Nationalmannschaft solle konkurriert werden zwischen einem "Platzhalter" und einem "Herausforderer", auf die Torwartposition ausgedehnt, wo doch der Unterschied zwischen Kahn und Lehmann minimal ist. Während Klinsmann mittlerweile froh sein muss, auf anderen Positionen überhaupt einen anständigen "Platzhalter" nominieren zu können, hat er durch die offene Torwartfrage für Verunsicherung gesorgt, die niemandem etwas nützt. Am wenigsten Lehmann, der sich beim kleinsten Fehler bei der WM wird warm anziehen können. Kahn hätte keinen Herausforderer gebraucht, sondern Zuspruch und Sicherheit, so wie sie der konkurrenzlose und bei weitem nicht immer brillante Michael Ballack genießt.
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