Nähe als Hindernis

Randgänge DVD

Anna Ditges gebührt das Verdienst, von der vor zwei Jahren in hohem Alter verstorbenen Lyrikerin Hilde Domin ein spätes filmisches Dokument geschaffen zu haben. Leider ist damit schon beinahe alles Gute über das Portrait Ich will dich - Begegnungen mit Hilde Domin gesagt; seine Qualität besteht vor allem darin, dass es keinen vergleichbaren Film gibt. Anna Ditges hat sich der Dichterin genähert aus Bewunderung, bald hat sie zu den Besuchen im Heidelberger Haus der Schriftstellerin nicht nur Blumen, sondern auch eine Kamera mitgebracht. Diese offene Arbeitsweise des No-Budget-Projekts sorgt allerdings für manche Verlegenheit: Es ist nicht leicht gute Fragen zu stellen, wenn man sich vorher nicht überlegt hat, welche, und so stehen die beiden Frauen in Domins Bibliothek und Ditges stellt fest: "Und das sind alles Bücher, an denen sie mitgewirkt haben?" So reizvoll der Altersunterschied von fast 70 Jahren zwischen den beiden Frauen, so unbedarft wirkt der Umgang der jungen Frau mit der Dichterin, die sie bewundert. Als die Sprache auf die ungewollte Schwangerschaft kommt, die Domin nach der Flucht vor den Nazis mit ihrem Mann Erwin Walter Palm in die Dominikanische Republik abbrechen ließ, fragt Ditges: "War das schwer für dich?". Domin: "Was für eine doofe Frage!". Von denen gibt es leider mehrere. So wird man den Eindruck nicht los, dass Ditges aus der gewonnenen Nähe zu der alten Frau vor allem ein Projekt privaten Stolzes macht, in dem die Gefühligkeit des Fernsehens und die Ästhetik eines Homevideos herrschen.

Anna Ditges Ich will dich - Begegnungen mit Hilde Domin. 95 Minuten, PAL, stereo, Ländercode 0, Sprache: Deutsch, Untertitel: Englisch, Hebräisch. 17,99 EUR

Biographie als Geschichte

Christoph Hübner gebührt das Verdienst, vielmehr als ein Portrait über den Filmemacher und Schriftsteller Thomas Harlan zu zeichnen, einen Film gedreht zu haben, dem man beim Denken zuschauen kann. Harlan, Sohn des Nazi-Regisseurs Veit Harlan, hat in den sechziger Jahren durch seine Recherchen in Polen für Tausende Anklagen von NS-Verbrechern gesorgt. Er sitzt in einem Lungensanatorium in Bayern, in Blickweite des Obersalzbergs. Gezeigt wird er in Wandersplitter, wie er in die Kamera schaut oder aus dem Bild ins Fenster, wenn er zu seinem Bett hinüber geht, ist das allenfalls Anlass, um über filmästhetische Fragen des Schnitts oder des Bildausschnitts nachzudenken.

Harlan ist ein faszinierender Charakter, ein unglaublich fesselnder, pointiert formulierender Erzähler. Nicht nur seine Stimme erinnert an die von Alexander Kluge, auch das Verfahren, Biographie nicht als Chronologie von Jahreszahlen und Schauplätzen zu begreifen (wie es Ditges bei Domin tut), sondern als Bruchstücke von Geschichten, bei denen sich das Ich verliert und alles, was an Realität erinnert. Wenn jemand eines Beweis für die tiefe Wahrhaftigkeit von Literatur bedarf, hier findet er ihn, exemplarisch etwa in der Episode aus dem Moskau der fünfziger Jahre, in dem Harlan aus der Rund-um-Betreuung in einem Hotel ins Abenteuer der Ungewissheit flieht mit einem Bus, dessen Richtung er nicht kennen will und aus dem er schließlich einem Mann folgt, der ihm in seiner Wohnung zu einem Zeugen macht dafür, "dass er einmal im Leben, 1929, jemand war". Die Sätze müssten ins Gewöhnliche zurück, sagt Harlan einmal, es gebe ein Pathos der Richtigkeit, bei dem man "heimlich stolz sei, dass man so gut formuliert hat - das muss raus". In solchen Misszellen offenbart sich die anregende Intelligenz eines Menschen, der über sein Leben, die Schuld und die Erinnerung, so abstrakt nachdenken kann, dass es für den Betrachter auf eine euphorisierende Weise konkret wird. Der DVD hat Thomas Hübner eine weitere DVD beigegeben, auf der Kapitel aus den Erzählungen des Thomas Harlan Platz finden, die in den Film nicht mehr gepasst haben - einen besseren Umgang mit den Möglichkeiten des Mediums DVD kann man sich nicht vorstellen.

Christoph Hübner Thomas Harlan - Wandersplitter. Edition Filmmuseum 35, 262 Minuten, PAL, Dolby Digital mono, Ländercode: 0, Sprache: Deutsch, Untertitel: Englisch, 29,95 EUR

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Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

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