Neben dem Schirm

66. Berlinale Im Kino ist das Kino nicht mehr allein: Grubenlampen, Smartphones und andere Lichtblicke
Ausgabe 07/2016
Hinter der Kulisse: Impressionen der 66. Berlinale
Hinter der Kulisse: Impressionen der 66. Berlinale

Foto: Odd Andersen/AFP/Getty Images

Auf einem Riesenfestival wie der Berlinale mit über 400 Filmen und dem konstant wuseligen Publikumsverkehr mag das Kino ein Heimspiel haben, wie es in der Sprache der Sportreportage heißt. Seiner völlig sicher sein kann es deshalb aber nicht. „Lower the light on the screens of your smartphones“, heißt die einführende Bitte einer Mitarbeiterin vor Beginn einer Forumsvorführung. Ein Versuch der Schadensbegrenzung, der das Eingeständnis, dass der Kampf gegen den second screen im Kinosaal nicht zu gewinnen ist, schön illustriert.

Tatsächlich ließe sich am Aufleuchten rausgeholter Handybildschirme recht präzise der Pawlow’sche Reflex kartografieren, das akute Gefühl mangelnden Selbstentertainments durch einen Blick auf das eigene Smartphone zu betäuben. Besonders arg war es für einen Sitznachbarn offenbar in Eldorado XXI (Forum), was für den Gelangweilten letztlich doch nur bedeutet, im falschen Film gesessen zu haben.

Denn die Größe von Salomé Lamas’ ethnografischem Epos über ein peruanisches Andendorf, das von einer Goldmine lebt, teilt sich gerade in der intensiven Erfahrung von Zeit mit. Eine Hälfte lang guckt der Zweistundenfilm in einer festen Einstellung hinab in den Abgrund der Mine, strukturiert vom rhythmischen Kommen und Gehen der Minenarbeiter, deren Grubenlampen Lichtpunkte in die Dunkelheit werfen. Auf der Tonspur sind Radioausschnitte und Icherzählungsfragmente kompiliert. In der zweiten Hälfte bewegt sich Eldorado XXI dann in den sozialen Raum, den die Arbeit mit sich bringt, beobachtet Frauen beim Koka-Kauen und Smalltalk, feiert die Feste, die das Jahr in der winterlichen Weltferne auf 5.000 Metern Höhe ritualisieren. Der deutsche Kinofilm muss derweil mit einem anderen Bildschirm konkurrieren, dem Fernsehen. Nicht um Aufmerksamkeit, sondern um seine ästhetische Unabhängigkeit. Weit ist Anne Zohra Berracheds Film, der einzige hiesige Wettbewerbsbeitrag in diesem Berlinale-Jahrgang, dabei nicht gekommen: 24 Wochen wirkt wie ein konzentrierterer Fernsehfilm, der bei Grimme-Jurys vermutlich gute Chancen gehabt hätte, einen der fünf Preise zu gewinnen.

Modus Problemfilm

Es geht um die Entscheidung über die Abtreibung eines Kindes, bei dem – so spitzt es der Film in seiner grobklotzigen Dramaturgie zu – erst Trisomie 21 und dann ein Herzfehler diagonistiziert wird. Spielort ist das deutsche Geschmacksbürgertum mit modernistischem Eigenheim, der Modus des Erzählens der „Problemfilm“, der Standardsituationen von Diagnoseverkündung (Familienfeier), Ablehnung (für die Gehässigkeit ist das Kindermädchen mit Migrationsakzent zuständig) und Entfernung (Streit der Eltern) nacheinander abhakt, seinen eigentlichen Konflikt aber verpasst.

Dabei stecken in dem Stoff gegenwärtige Fragen (der Hedonismus der heutigen Elterngeneration, gepaart mit dem Stand der Früherkennung), zu denen 24 Wochen nicht vordringt, weil der Film in seiner schematischen Vorstellung von Erzählung, Gesellschaft und „Problem“ gefangen bleibt. Nur in den Medizinerdarstellungen findet sich ein eigener, in seiner übertriebenen Ausführlichkeit idiosynkratischer Ton – eine dokumentarisch anmutende Nüchternheit, die dem Rest des Films, vor allem den impressionistischen Pausen mit Musik aber nichts zu sagen hat.

Die Souveränität in der Erzählung, an der es 24 Wochen mangelt, ließ sich in der ersten Festivalhälfte bei den beiden französischen Wettbewerbsfilmen L’Avenir von Mia Hansen-Løve und Quand on a 17 ans von André Téchiné (Drehbuch gemeinsam mit Céline Sciamma) beobachten. Vor allem die letztgenannte Coming-of-Age-Geschichte war beeindruckend, weil in Spiel, Kamera, Dramaturgie so gekonnt. Quand on a 17 ans verdichtet an sich banale Erzählmomente (eine schwule Liebesgeschichte, die sich lange als pubertäre Unfähigkeit tarnt, die eigenen Gefühle zu verstehen, und deshalb wechselseitig verkloppt) zu einem genauso dramatischen wie leichten Film über das Erwachsenwerden. Durch den Tod eines Soldatenvaters im Auslandseinsatz und eine Adoptionsgeschichte stellt Quand on a 17 ans beiläufig Bezüge her, die aus der familiären Abgeschiedenheit hinaus in die Welt führen.

Dass der Widerstreit der Erzählungen das künstlerische Geschäft belebt, zeigt Jochen Hicks Dokumentarfilm Der Ost-Komplex (Panorama). Der widersteht nämlich der Versuchung, die Stasi-Opfer-Zeitzeugengeschichte zu verfilmen, mit der Mario Röllig heute in Schulen und auf CDU-Veranstaltungen DDR erklärt. Bei aller Vertrautheit mit seinem Protagonisten hält Hick immer wieder antagonistische Vergangenheitsentwürfte gegeneinander (Vera Lengsfeld, die gegen Egon-Krenz-Lesungen demonstriert), um auch die mitunter komische Nähe der beiden scheinbar weit voneinander entfernten Erinnerungsfraktionen vorzuführen, die auf die DDR als Legitimationsgrund bis heute angewiesen sind.

Zu den großen Ereignissen dieser Berlinale gehört Philip Scheffners Essay Havarie (Forum), der in einem langen Prozess zu einer filmisch intelligenten Form des Erzählens vom Leid anderer gefunden hat (Freitag 6/2016). Die Blicke und Lebensgeschichten, die sich in der Begegnung eines Schlauchboots und eines Kreuzfahrtschiffs im September 2012 im Mittelmeer kreuzten, erzählt der Film – auf der Tonebene in verschiedenen Interviews und auf der Bildebene als auf die Kinolänge von 90 Minuten verlangsamter 3:36-Minuten-Youtube-Clip. Das Konzept ist kein künstlerischer Trick, sondern erweist sich als ästhetische Notwendigkeit, wenn man als Teil der Kreuzfahrtschiffwelt den eigenen Standpunkt verstehen will. Darin ist Kino im Übrigen konkurrenzlos: einem scheinbar kontingenten Urlaubsvideofilm mit zeitlicher Verzögerung den globalpolitischen Kontext zu rekonstruieren.

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