Schwimmen ist ein eigenartiger Freizeitsport. Man übt ihn einsam aus und ist zugleich auf die Mitschwimmer angewiesen. Denn gäbe es sie nicht, würde kein Schwimmbad eröffnet. Etwas pathetisch könnte man sagen: Schwimmen ist, unter den Freizeitsportarten, das Inbild des gesellschaftlichen Lebens und das Hallenbad der Platz, an dem die ganze Breite dieses Lebens versammelt ist.
Mannschaftssportarten wie Fußball mögen soziale Qualitäten befördern, aber in Freizeitteams spielt man meist mit Gleichgesinnten, bewegt sich innerhalb seines Milieus und trifft auf andere höchstens als Gegner. Das Skifahren, das ebenfalls nach einem öffentlichen Ort verlangt, erfordert einen nicht unbeträchtlichen finanziellen Aufwand, der einen Großteil
ßteil der Bevölkerung von der Teilnahme daran von vornherein ausschließt.Zum Schwimmen braucht man dagegen nicht mehr als Badeanzug und Chlorbrille. Und dann trifft man in der Umkleidekabine auf kurzgeschorene, muskulöse Männer mit Ehrfurcht gebietenden Tattoos und politischen Ansichten, die man vermutlich nicht teilt. Man ärgert sich über Rentner, die ihre eigenwilligen Rückenschwimmtechniken im gebahnten Bereich praktizieren. Und man neidet der dauerüberholenden gewesenen Profischwimmerin ihren eleganten Freistil samt Rollwende. Kurz: Im Schwimmbad ist es wie im Alltag – die anderen mögen die Hölle sein, aber ohne sie gäbe es das Bad nicht.Schnell am RollwendepunktDer private Swimmingpool weist aus diesem Dilemma keinen Weg. So berückend es ist, als Erster in eine von jeder Bewegung unberührte Wasseroberfläche zu tauchen, so traurig ist es, ein Becken für sich allein zu haben. Und was viel stärker zählt: Von Schwimmen kann man erst ab einer gewissen Bahnlänge sprechen – zehn Meter breite Pools zu durchpflügen, macht keinen Spaß. Man ist, auch ohne die Rollwende zu beherrschen, viel zu schnell am anderen Beckenrand. Und wird überdies beim Versuch, das übliche Pensum zu absolvieren, matschig im Kopf vom endlosen Zählen.Im Schwimmbad trifft man also auf den Staatsbürger in Badehose, und es sagt deshalb viel über das ambivalente Verhältnis der US-Amerikaner zu ihrem Staat, wenn man sieht, wie schwierig es ist, dort überhaupt ein öffentliches Schwimmbad zu finden. In New York wird dem Durchreisenden das Schwimmen verleidet durch die zu entrichtende Jahresgebühr von um die 100 Dollar, die sich ähnlich wie die Autobahnvignette in der Schweiz für den lokalen Heavy User auf 12 Monate gerechnet zwar auszahlen mag, für den einmaligen Gast aber ein horrendes Maß an Leidenschaft voraussetzt. In New Orleans ist die Lage der öffentlichen Pools so desaströs, dass dem Hallenbadbenutzer der Hotelpool empfohlen wird – dass internationale Hotelketten als Residuen von Öffentlichkeit fungieren, ist ein klassisches Schwellenlandphänomen.Und in Milwaukee, dieser mit über einer halben Million Einwohnern größten Stadt im Bundesstaat Wisconsin, gibt es, wiewohl gelegen in einem Landstrich mit real existierendem Winter, gerade zwei Hallenbäder. Ein Vergleich aus Sicht des durch staatliche Daseinsvorsorge verwöhnten Deutschen: Das etwa gleich große Leipzig hat sieben Schwimmhallen, Dresden sechs (je plus ein Spaßbad). Erschwert wird der Gang ins Hallenbad in Milwaukee zudem durch eine – allerdings auch in Leipzig übliche – nicklige Öffnungszeitenpolitik, die Schwimmern jenseits von Schulklassen, Wassergymnastik- und anderen obskuren Nutzergruppen wenig Platz einräumen.Am 5. Juni, einem Dienstag, bot etwa der Pulaski Pool zum Lap Swim genannten Bahnenschwimmen nur den frühen Morgen beziehungsweise späteren Abend an. Der Pulaski Pool im Süden der Stadt trägt, wie einiges in Milwaukee, den Namen eines polnischen Generals, der im 18. Jahrhundert in die noch zu gründenden Vereinigten Staaten von Amerika emigrierte. Die Zahl der zum Bad strömenden Menschen verhieß dem Besucher nichts Gutes: Vermutlich würde es so voll sein, dass an ein einigermaßen durchrhythmisiertes Schwimmen nicht zu denken sein würde.Tatsächlich war es voll, aber nur im Vorraum. Der Pulaski Pool diente als Wahllokal für den sogenannten Recall, bei dem es um die Abstimmung über den Gouverneur von Wisconsin ging. Es wurde, per Unterschriftensammlung eingefordert, über die Zukunft des republikanischen Amtsinhabers Scott Walker entschieden, dessen unternehmerfreundliche Politik den Bundesstaat so stark gespalten hatte, dass es zu Aufruhr und entwürdigenden Szenen gekommen war. (Demokratische Abgeordnete flüchteten in den Nachbarstaat Illinois, um sich prekären Abstimmungen über Beamtenpensionen und Einschränkung von Gewerkschaftsrechten zu enthalten.)UmkleidewahlkabinenWo man in Deutschland Wahlkabinen häufig in Schulen aufstellt, fand in Milwaukee die Wahl neben Umkleidekabinen statt. Das Versöhnliche dabei war: bei laufendem Schwimmbetrieb. Drinnen Übergewichtige, die Wassergymnastik veranstalteten, Pfadfinder, die an der Fähigkeit zur guten Tat arbeiteten, und eine freie 25-Meter-Bahn. Und draußen Wähler. So viele wie noch nie, wie der Bademeister meinte, der hier schon mehrere Wahlen erlebt hat. Zu wenige, wie der Wahlhelfer fürchtete, der verdrossen war über die Schwierigkeiten, die überwiegend hispanischen Geringverdiener aus den Wahlkreisen um den Pulaski Pool für die Wahrnehmung ihrer staatsbürgerlichen Rechte zu gewinnen.Das Hochgefühl nach körperlicher Betätigung und im Angesicht von staatsbürgerlichem Pathos trog. Walker wurde nicht abgewählt, sondern gewann den Entscheid relativ deutlich. Was das für das Wählerverhalten bei der Präsidentschaftswahl im November heißt, bleibt offen. Wisconsin gilt als Swing State. Für Milwaukee bedeutet die aktuelle Abstimmung nichts Gutes: Dass es künftig mehr Wahllokale in Schwimmhallen geben könnte, weil es mehr öffentliche Bäder gibt, ist von Walkers Politik nicht zu erwarten.