Ode an den "Kommissar"

Medientagebuch Ferner Grusel: Das schwarzweiße Bild der Bundesrepublik um 1968

Wenn schon die Politik versagte und ihre protestierende Jugend von den Ordnungskräften ordentlich verprügeln ließ, dabei die Menschlichkeit mit Füßen getreten wurde und die Kontrolle außer Kontrolle geriet, dann war es gut zu wissen, daß es doch noch etwas gab, auf das man sich verlassen konnte", schreibt Gerald Grote, ein Großmeister des Wortspiels, in seinem Buch Der Kommissar, das als Standardwerk zur gleichnamigen Kriminalserie gelten muss. Verlässlichkeit ist seit je das Erklärungsmodell für das ästhetisch Rückwärtsgewandte, der Einspruch des Biedermanns gegen die der Kunst immanente Forderung nach Neuerung, und damit nützlich für alle Drehbücher, die der frühere SS-Mann und heutige Kulturpessimist Herbert Reinecker dem Fernsehen je geschrieben hat.

Im Fernsehen unserer Tage ist Verlässlichkeit mehr eine mediale Kategorie als eine ethische. Die Serie ist das Versprechen von unendlicher Regelmäßigkeit, deren Erfolg sich nicht durch die Qualität der Machart erklären lässt (siehe daily soaps), sondern allein durch den Umstand, dass sie immer da ist. Ein mehrjähriges Warten auf neue Folgen, das dem Schwarzwaldklinik-Fan in den achtziger Jahren noch zugemutet wurde, ist deshalb ersetzt durch vielfache Wiederholung des bereits Gezeigten. ProSieben hat das am besten verstanden und sendet seit Jahren ohne Unterbrechung die Zeichentrickserie Die Simpsons, wobei jede neue Staffel absurderweise zuerst an exponierter Stelle gezeigt wird - am Wochenende oder zur Hauptsendezeit -, ehe sie als Wiederholung in den vorabendlichen Wochentagstakt eingegliedert wird.

Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gibt es zwei Serien, die mit dem gleichförmigen Lebensrhythmus der Zuschauer korrespondieren. In den Dritten sind - wenn auch ohne festen Sendeplatz und erkennbare Struktur - regelmäßig Folgen aus den DDR-Jahren des Polizeiruf 110 zu sehen. 3sat zeigt seit Jahren am späten Sonntagabend Der Kommissar, die "erste deutsche Kriminalserie" (Grote). Versuche, den Kommissar durch die Wiederholung einer anderen ZDF-Krimiserie (Der Alte, Ein Fall für zwei) zu ersetzen, sind gescheitert. Deshalb darf sich die Fan-Gemeinde des Kommissar berechtigte Hoffnungen machen, dass es, wenn im Oktober der aktuelle Zyklus der 97 Folgen einmal mehr an sein Ende gekommen ist, einfach wieder von vorn losgeht. Folge 1: Toter Herr im Regen.

Während der Polizeiruf ein Sittenbild der untergegangenen DDR zeichnet, liefert Der Kommissar ein Portrait der gewesenen Bundesrepublik. Ideologie kehrt nach dem Ende des Kalten Kriegs in beiden Fällen als bad taste wieder. Die Originalschauplätze des Kommissar werden in den Fanforen des Internets zu bundesdeutschen Erinnerungsorten, auf deren Suche sich mancher aficionado begeben hat. Diskussionen entzünden sich an den Ungereimtheiten von Dramaturgie und den Details des Kommissar-Universums, es geht um juristische Beurteilung von Täterschaft und den Versuch, Bilderfetzen aus frühen Fernsehtagen in den sinnvollen Zusammenhang eines Archivs einzuordnen.

Das politische Interesse des Zuschauers beschränkt sich heute darauf zu sehen, wie es nicht gewesen ist. Das ist beim Polizeiruf nicht anders. In beiden Fällen geht es darum zu erkennen, was sich nicht mit dem Bild des jeweiligen Systems deckt. Das führt zu entgegensetzten Ergebnissen. Wo in der DDR-Krimiserie die DDR in milderem Licht erscheint, weil man von den pädagogischen Repräsentanten der staatlichen Repression nichts mehr zu befürchten hat, offenbart Der Kommissar eine drastische Version der Bundesrepublik, die man etwa in den Tatort-Folgen jener Jahre vergeblich sucht. Gerade in der Übertreibung aber liegt womöglich mehr Wahrheit über die mentalhistorischen Bedingungen der Bundesrepublik, als jeder Realismus vorführen könnte.

Im Kommissar, von 1969 bis 1976 gedreht, gelangt die Auseinandersetzung von 1968, das Ringen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit des westdeutschen Staates, in die Wohnzimmer der unbeteiligten Mehrheit. Ästhetisch verläuft dieser Riss zwischen dem gestrigen Schwarzweiß der Serie und der zeitgemäßen Popmusik (Jimi Hendrix, Roberta Flack, Jane Birkin) in ihr, die ihres freudvoll-emanzipatorischen Gehalts freilich immer entkleidet ist. Der vielleicht schönste Reihentitel, Tod eines Hippiemädchens (härtester Konkurrent: Ein Playboy segnet das Zeitliche), ist Programm. Geopfert werden zumeist Frauen, die Blue Jeans tragen, blond und unschuldig jung sind und ihr Verderben selbst heraufbeschworen haben, als sie (natur)getrieben von "Lebenslust" die elterliche Scholle verlassen und in dem Moloch München ihr Glück gesucht haben. Das führt fast ausnahmslos in die Zwangsprostitution, in schummrige Bars mit lichtscheuem Gesindel aus nichtsnutzigen Studenten, alkoholisierten Verbrechern und dunkelhäutigen Sängerinnen. Jegliche Bewegung ist in der Fortschreibung faschistischer Mythen derart verhasst, dass nicht nur das Trampen ein Sündenfall ist, sondern auch das Speditionswesen regelmäßig als Handlanger des Verbrechens fungiert. Und unter jedem großbürgerlichen Dach wohnt ein depravierter Enkel, der heimlich mit der neuen Zeit fraternisiert. Der Kommissar (Erik Ode) wirkt in diesem Setting als Sendbote der alten Ordnung, dem das Gesetz der Serie gestattet, Gerechtigkeit, soll heißen, die alte Ordnung wieder herzustellen. Das gelingt ihm weniger durch kriminalistischen Spürsinn als vielmehr durch Intuition, eine Fähigkeit, die seinen drei unselbstständigen und ungeschickten Assistenten Robert (Reinhard Glemnitz), Walter (Günther Schramm) und Harry (Fritz Wepper) beziehungsweise Erwin (Elmar Wepper) nicht gegeben ist. Die immer größer werdenden Dosen an Moral, die zum Sieg des alten Glücks verabreicht werden müssen, können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kampf der Generationen dauerhaft nicht mehr zu gewinnen ist.

Statt Spannung setzt Der Kommissar auf Grusel, was vielleicht am stärksten zum Reiz der Serie in unseren Tagen beiträgt. Der Schauder jedes Sonntagabends ist ein wohliger, weil man einschlafen kann ohne die Sorge, am nächsten Tag in die Welt des Kommissar hinauszumüssen. Diese Bundesrepublik gibt es nicht mehr. Vermutlich war das schon immer so.

Der Kommissar: Schwierigkeiten eines Außenseiters (78. Folge), Sonntag, 22. Mai, 3sat.


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