Homosexualität bleibt auch in der zweiten Dekade des dritten Jahrtausends eine Herausforderung für den Tatort. So musste der Schwule, wo er froh darüber sein durfte, im Kontext Fußball überhaupt mal vorzukommen, im Fernsehen auf Anhieb als schwul erkennbar sein – und sei es durch das kurzerhand neudenotierte Red-Ribbon-Zeichen. Man kann zwar sagen, dass zwischen Schimanskis kurzzeitigem, high-tuntigen Mitbewohner in der letzten Folge vor der Selbstständigkeit als Schimanski am Sonntagabend (Tatort: Der Fall Schimanski, 1991) und Dr. Julian Siebert (Arnd Klawitter) in dem aktuellen Stuttgarter Fall Grabenkämpfe etwas passiert ist, das sich als Entwicklung bezeichnen ließe. Während Schimanskis Mitbewohner nur als Symptom von Abstieg (muss jetzt sogar mit Schwulen wohnen), Aufforderung zur Selbstermannung (nur nicht so enden) und Heterosexualitätsbekräftigung (Hotte bleibt den Ladies treu, kein Zweifel) herhalten musste, kann der Yoga lehrende Kunsthistoriker Siebert (ein bisschen fettes Prekariat an der falschen Stelle) durchaus eine gewisse Eigenständigkeit für sich behaupten. Sein ebenfalls äußerst betontes Schwulsein kann man wie – not so lonely, this time – Lannert (Richy Müller) als einen Style des homosexuellen Spektrums auslegen und als Zeichen von Selbstbewusstsein nehmen, zumal Arnd Klawitter diesen Siebert sehr elaboriert spielt.
Das ändert aber nichts daran, dass dieser Style der gebräuchslichste für einen Tatort-Schwulen bleibt – dass ein Schwuler, der einmal subtiler als Schwuler eingeführt wäre, einfach nicht vorstellbar ist (also dass jemand, sagen wir, Lehrer ist und auch schwul und nicht ein Schwuler, der Lehrer ist). Wie dereinst bei Schimanski wird, wo der Schwule auftaucht, umgehend der Heteroheterosexuelle (Lannert) angegraben – und der lässt sich den Spott des Kollegen incl. sein Damit-umgehen-Können als Toleranz gutschreiben. Am Ende bleibt der Schwule jedoch auch hier nur bezogen auf den so genannten Normalfall, den toten Stefan Aldinger (was in unseren Ohren jedes Mal wie "Eidinger" klingt), der sich, wenn's hart auf hart kommt, eben fürs heteronormale Familienmodell entscheidet.
Man kann in dieser Volte auch einen rein dramaturgischen Kniff sehen, der ähnlich wie die späte Vaterschaft von Rühle (der große Rüdiger Vogler) von Clemens Doll (Hans Löw) neuen "Gestaltungsspielraum" (Angela Merkel) eröffnet – zugunsten der Spannung und auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Aber es bleibt ein Unbehagen zurück, das busy Bootz (Sebastian Klare, diesmal mit Kindergeburtstag und Hauskaufideen am Start) auf den Punkt bringt, wenn er die Entdeckung von Aldingers homosexueller Affäre Siebert kommentiert mit der Frage: "Wie heißt das denn jetzt politisch korrekt?"
Auswurf oder Antichrist?
Zwar ist die Bootz-Figur nicht erhaben über jede Kritik, aber sie ist zweifellos eine der Identifikationsfiguren des Stuttgarter Tatort. Bootzens – und hier müssen wir kurz einmal präziser werden – Aufrufen von "p. c." kann also als Ausdruck eines unverstellten und damit irgendwie richtigen Volksempfindens gelten; es legt eine Sicht auf Siebert/Aldinger nahe, wie sie als "normal" wahrgenommen würde. Wie unreflektiert Bootzens Bemerkung ist, zeigt nun aber der Umstand, dass einem für das, was Bootz sagen will (Buch: Stefan Cantz und Jan Hinter), ein "politisch inkorrekter" Begriff, der denkverbotabuphemisiert in eine "politisch korrekte" Bezeichnung umgewandelt werden müsste/könnte, gar nicht einfällt.
Vielleicht müsste man Shilo Tarrazin oder eine Knallcharge ähnlichen Kalibers einmal fragen, wie man zu einem Mann, der seine Frau mit einem Mann betrügt, ja wohl noch sagen können wird dürfen: Verräter? Auswurf? Antichrist? Wir würden es Affäre nennen, und wenn etwas lobenswert ist an Tom Tykwers Film Drei außer der großen Sophie Rois, dann ist es der Modernisierungsschub an der Geschlechterfront, an der die eindeutigen Zuordnungen ohne großes Bohei obsolet geworden sind.
Busy Bootz bleibt aber gerade wegen des Unsinns, den er redet, einer unserer, wenn nicht der Darling unter den aktuellenTatort-Ermittlern (All-Time-Favorite: wahrscheinlich Zollfahnder Kressin). Mit ihm ist eine Figur geschaffen, an der die "ganz normale" Stulligkeit des irgendwie modernen Mannes in ihrer naiven Verwickeltheit ins krisenhafte Weltganze durchdekliniert werden kann. Bootz muss Widersprüche aushalten, von denen man mit ein wenig Küchenmathematik nur annehmen kann, dass sie sich irgendwo im néant aufheben – also da, wo sich die beiden Parallelen aus der Geometrie "Gute Nacht" sagen.
Du bist "Stuttgart 21"
Denn: Einerseits geht Bootz gut gelaunt mit Tochter auf den Schultern und dem Kollegen an der Seite zu Ska-Konzerten in alternativen Veranstaltungsorten und brüllt euphorisch mit, dass "Stu'gart bunt bleiben" müsse (was, aus einer etwas ferneren, unbedingt defätistischen Perspektive, die Frage aufwerfen könnte, ob es das je gewesen ist). Andererseits hat er beim Rausgehen nichts Besseres zu tun, als von einem Eigenheim aus der Hand jenes Baulöwen (Rühle) zu träumen, der eben diese Buntheit planieren will ("Sieht nach ner guten Planung aus").
Bootz ist "Stuttgart 21", hält sich selbst aber für einen Demonstrant dagegen. Mehr Realitätsbewusstsein in Bezug auf die deutsche Mittelschicht ist von einem Tatort nicht zu erwarten. Dass "Stuttgart 21" hier seine Schatten vorauswirft (gedreht wurde im Sommer, kurz vor dem Anschwellen der Proteste), ist ein ebenso so unvermittelt aktuelles issue, wie die Siebert'sche Darstellung der Promotionsverhältnisse (Rühle ist nur h.c., besteht aber auf Titelnennung wie nichts Gutes) den Fall Guttenberg vorwegnimmt. Man darf gespannt sein auf den nächsten, ersten Post-Stuttgart-21-und-womöglich-auch-grüner-Wahlerfolg-Tatort aus Stuttgart.
Bis dahin bleibt der Trost guter Unterhaltung angesichts des gepflegten Schwäbischs und der vielen prägnanten Typen in Grabenkämpfe: Löws klemmig-entrechteter Doll, Voglers herrischer Baulöwen-Papa, Sieberts zärtlicher Yoga-Doktor, Guntbert Warnsens mattiger Alternativkonzertveranstalter, Annedore Kleist sich gewaschen habende Lokalpolitikerin und mit ein wenig Goodwill sogar Jasmin Gerats aggresionsmanagementdefizitäre Boxerfrau.
Sätze, die man selten und deshalb gerne hört: "Ich bin so groggy"
T-Shirts, die zum Typ passen: "Reggae Beats" (Warnsens Holzmann)
Reminiszenzen an den frühen Tatort, als Kollegenbesuche noch auf der Tagesordnung standen: Der Gerichtsmediziner Vogt (Jürgen Hartmann) kommt gerädert vom Kongress aus Münster zurück, wo der dortige Kollege ("der anstrengende Mensch") "pausenlos" schwadroniert hat – wir warten auf Boernes Retourkutsche am nächsten Sonntag
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