Die Wörter Geschichte und Geschichten sehen sich im Deutschen so ähnlich, dass es hilfreich ist, ins Englische auszuweichen, wenn man von ihrem Unterschied reden will. Dort bezeichnet history die offizielle Erzählung von der Zeit der Welt und story die private, und die Tatsache, dass das Wort story ein Teil des Wortes history ist, zeigt, wie beide Formen der Welterfahrung zusammenhängen. Das private Erlebnis ist immer ein Partikel der allgemeinen Geschichtsschreibung, nur ist man sich dessen in den seltensten Fällen bewusst. Deutlich wird die Verbindung von history und story bei Großereignissen wie Mauerbau oder Mauerfall, wenn jeder Dabeigewesene seine Version des jeweiligen Datums verinnerlicht und damit seinen Standort im Weltenlauf markiert: Wo ich war, als es passierte.
Der 4. Juli 1954 war so ein Tag, an dem sich die Geschichte in private Lebenserzählungen niederschlug. Die junge Bundesrepublik besiegte in der Schweiz überraschend die favorisierten Ungarn und wurde Fußball-Weltmeister. Ein symbolischer Sieg für die fünfziger Jahre, in denen die Politik sich zum Ziel gemacht hatte, was die Menschen nach dem 3:2 von Bern jubelten: Wir sind wieder wer. Aus dem Satz spricht zugleich das Innovative und Restaurative der frühen Nachkriegszeit - der Wille zum Wiederaufbau, zum Neubeginn in einer Demokratie, der durch die Weltmeisterschaft Bestätigung erfährt sowie der grölende Revanchismus, der am 8. Mai 1945 beim besten Willen nichts Befreiendes erkennen konnte und deshalb froh ist, es dem Rest der Welt mal wieder gezeigt zu haben. Das Wunder von Bern heißt der Augenblick, in dem sich history und unzählige stories verknüpfen, und ein Dreivierteljahr vor dem fünfzigsten Jahrestag kommt Sönke Wortmanns gleichnamiger Film in die Kinos, der sich als offizielle Version dieses Links präsentiert.
Das Wunder von Bern beginnt in den trostlosen Straßen des Ruhrgebiets, wo sich eine Gruppe Kinder am Samstagnachmittag noch auf dem Dachboden versammelt, um von den per Brieftaube übermittelten Fußballergebnissen zu erfahren. Unter ihnen: Matthias Lubanski (Louis Klamroth), elf Jahre und großer Fan vom "Boss", Helmut Rahn (Sascha Göpel), dem er die Sporttasche zum Training bei Rot-Weiß Essen tragen darf und das Glück bringt. "Die großen Spiele gewinne ich nur, wenn du dabei bist", sagt der lebenslustige, etwas unstete Boss einmal, und im Anbetracht seiner Rolle im Berner Finale ist ein früher Hinweis gegeben, wie weit es der kleine Matthes aus dem Pott in dem Film noch bringen wird.
In Lubanskis Zuhause herrscht zu dieser Zeit noch die Mutter (Johanna Gastdorf), die ihre drei Kinder, darunter den aufmüpfigen, mit "Negermusik" und Kommunismus liebäugelnden Bruno (Mirko Lang), mit dem Betrieb einer Kneipe durchbringt. Das alles soll sich mit der lang ersehnten Rückkehr von Vater Richard (Peter Lohmeyer) aus der Kriegsgefangenschaft ändern: Wo lachend gestritten wurde, ertönen nun barsche Befehle, und die Mutter fügt sich wieder ins Glied.
Dieser Moment zeigt exemplarisch, woran Das Wunder von Bern leidet. Die Konstellation, die Wortmann herbeigeführt hat, ist nicht uninteressant, aber er verweigert ihre Durchführung. Die Konstellation lautet: Die Notlage des abwesenden Vaters hat von der verbliebenen Familie ein modernes Bild geformt, in dem autoritäre Strenge kein Erziehungsmittel mehr ist. Die Familie hat den fehlenden Vater ersetzt und sich so zwangsläufig von ihm emanzipiert. Seine Rückkehr und die damit verbundene Wiedereinsetzung der alten Ordnung nimmt also jene Konflikte in der Wohnstube vorweg, die 1968 auf der Straße ausgetragen wurden. Die Ignoranz von Wortmanns Film besteht nun darin, dass er den angelegten Konflikt nicht austrägt. Eifrig werden die Momente der Auseinandersetzung aufgelistet - Vater holt Tochter aus dem Tanzlokal, Vater verordnet Stubenarrest für jüngsten Sohn, Vater schlägt ältesten Sohn -, aber letztlich bleiben alle Figuren in ihrer Rolle verhaftet und verhindern damit eben: Auseinandersetzung. Das gilt vor allem für Peter Lohmeyer, der eine blasse Vorstellung gibt. Für die Verbitterung, die er aus dem Krieg mitbringt, kennt Lohmeyer genau einen Gesichtsausdruck. Außerdem hat er weiche, wenn man so will: moderne Züge, die in mimischer Opposition zu dem verkörperten autoritären Charakter stehen.
Von verlorenen Vätern und Söhnen soll Das Wunder von Bern handeln, und damit die Schwierigkeiten der Deutschen benennen, sich zu ihrem neuen Staat zu verhalten. Wortmanns oberflächliche Inszenierung und das all-inclusive-Drehbuch produzieren aber lediglich plumpe Analogien. Während Matthias Lubanski nach seinem Vater sucht, macht sich Sepp Herberger (Peter Franke) Sorgen um Helmut Rahn, seinen liebsten Schützling. Der zu Beginn des WM-Turniers vom Warten auf der Ersatzbank frustrierte Rahn büchst heimlich aus dem Mannschaftshotel aus, um sich mit Leidensgenossen zu betrinken. Herberger lässt auf Rat einer schweizerischen Putzfrau Milde walten und setzt Rahn schließlich ein, genauso wie Matthias Lubanski nach einem Gespräch mit der Mutter dem Vater mit Verständnis begegnet und das Radio mit der Fußballübertragung abstellt, um stattdessen den Berichten aus der Gefangenschaft zu lauschen. So nähern sich Vater und Sohn in beiden Fällen an, und Sepp Herberger gewinnt durch Rahns Tor das Finale, zu dem Richard und Matthias Lubanski mit dem Auto des Pfarrers aufgebrochen sind. Papa ist eben doch der Beste. Das ist der Mythos, zu dem history und story in Das Wunder von Bern verschmelzen.
Wie gut der Papa von Annette Ackermann (Katharina Wackernagel) ist, erfährt man leider nicht, weil er nicht vorkommt. Es reicht zu wissen, dass seine Tochter aus vermögenden Verhältnissen stammt und deshalb mit dem frisch vermählten Gatten, dem Sportreporter Paul (Lucas Gregorowicz), die Außenstelle München in Wortmanns Topographie der Nachkriegszeit besetzen darf. Das bedeutet: Glamour, Karriere und weite Welt. Das Ehepaar Ackermann funktioniert als nachgereichter Traum vom Wohlstand und als Versprechen einer künftigen bundesdeutschen Elite, das seinen Nachwuchs just am historischen Ort zeugt. Das dominant-pragmatische Naturell von Annette Ackermann, die die Dienstreise des Mannes in die Schweiz kurzerhand zu den gemeinsamen Flitterwochen erklärt, lässt auf ein modernes Geschlechterverständnis schließen. Die Überbetonung von weiblicher Intuition als wahrer Fußballkennerschaft erweist sich dagegen als Koketterie, wo es sich gar nicht um Intuition, sondern um Analyse handelt. Oder wenn eine Schweizer Putzfrau Herbergers Stichwortgeberin für die bedeutendsten Sätze der hiesigen Fußballphilosophie gewesen sein soll ("Ein Spiel dauert neunzig Minuten, Der Ball ist rund").
Was den Fußball selbst betrifft, so hat Wortmann ihn weder in der Unsichtbarkeit des Radios belassen, noch auf Archivaufnahmen zurückgegriffen, sondern nachinszeniert. Das Pfälzisch von Fritz Walter (Knut Hartwig) mag immerhin für vergnügliche Szenen sorgen, die Bilder vom Spiel bleiben auffällig nichtssagend. Das neunzigminütige Drama entfaltet sich nicht im Zusammenschnitt, und es gewinnt erst recht nichts dadurch, dass die Kamera im Kino mit aufs Feld darf. Die animierten Zuschauerränge tragen ihren Teil zur Herabminderung des historischen Augenblicks bei: In manchen Einstellungen sieht das große Finale aus wie die neueste Version eines Nintendo-Spiels.
Sönke Wortmanns Das Wunder von Bern wirkt wie ein Auftragswerk des DFB, ein Lehrfilm, der sich bei jeder Gelegenheit vorführen lässt. Er ist aus dem Geist der Industriereklame gemacht, die ihre Präsentationen narrativ ummäntelt. Wie im 3-D-Kino, wo die Möglichkeiten der Technik durch schlichte Geschichten demonstriert werden, demonstriert Das Wunder von Bern "History", womit in diesem Falle das "deutsche" Wort gemeint ist, mit dem Guido Knopp neuerdings im ZDF Dokumentationen vorführt. Wie vielen Leuten der Film gefallen soll, kann man an den Dingen erkennen, die er ausspart - dazu zählt nackte Haut so sehr wie Nazis oder größere zwischenmenschliche Verwerfungen. Gleichzeitig verspricht Das Wunder von Bern ein Panorama seiner Zeit zu zeichnen, jede Position der jungen Bundesrepublik zu besetzen. Aber bei Sönke Wortmann sind alle Konflikte nur aufgestellt, ins Spiel kommen sie nicht.
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