Der Berliner Radiomoderator Volker Wieprecht warf unlängst die Frage auf, wie Goethe eigentlich bemerkt habe, dass er älter wurde. Wieprecht hatte gerade einen Song von The Cure aus dem Jahre 1981 gespielt, der ihn daran erinnerte, im gleichen Jahr zu einem Konzert der Band gegangen zu sein. Interessant an der Überlegung ist aber weniger, wie schnell Zeit vergeht, sondern wie schnell sie gegenwärtig wird. Ein paar Takte eines Liedes reichen aus, ein Stück Biographie wieder spürbar zu machen, vergangene Gefühle zu evozieren. Für den modernen Menschen, der Wahrnehmung im Kino und vor dem Fernseher gelernt hat, ist Popmusik der Soundtrack zu dem Film, der Leben heißt.
In Goethes Tagen wird es andere Speicherplätze für Erinnerung gegeben haben, was im medialen Zeitalter nur deshalb schwer verständlich scheint, weil Popmusik überall ist. Gefühlsäußerungen wurden normiert und ständig abrufbar; als Sinnbild dafür steht die Musikkassette. Genauer: das eigens angefertigte, anderen zugedachte Tape. Mit verschiedenen, absichtsvoll ausgewählten Songs bespielt, ließen sich durch die Kassette Sachen sagen, die zu heikel waren, um sie dem Empfänger direkt mitzuteilen. Oder die sich verbal einfach nicht besser ausdrücken ließen. Words don´t come easy.
So ist es etwa wahrscheinlich, dass viele Menschen, die Mitte der achtziger Jahre jung und unglücklich verliebt waren, mit Frankie Goes To Hollywoods Schmachthymne The power of love etwas verbinden werden, das sie beim heutigen Hören eine Träne unterdrücken lässt. Sag´s durch Popmusik statt durch die Blume: In den Hitlisten findet sich für noch jede Stimmung ein passendes Ventil. Besonders im sentimental aufgeladensten aller Bereiche, dem zwischenmenschlichen, leistet die Musik gute Dienste: So pathetisch wie Pop haut sonst keiner auf die Pauke.
Höchstens Baz Luhrmann. Sein dritter Film Moulin Rouge beginnt mit mehreren Paukenschlägen, die zur Verleihfirma-Fanfare gehören. Irritierend daran ist, dass sie von einem Orchester stammen, dessen Dirigenten man vor einer weiteren Leinwand gestikulieren sieht. Man sitzt im Kino und sieht ein Kino, das einen Film zeigt. Der Weg ins Reich des schönsten Scheins führt durch den doppelten Vorhang.
Die Kamerafahrt geht durch ein digitalisiertes Jahrhundertwende-Paris hinauf zum Montmartre, der genauso wie in Jean-Pierre Jeunets Film Die fabelhafte Welt der Amélie auf Postkartengröße zurecht klischiert ist. Baz Luhrmann zeigt das Bild, das sämtliche Souvenirläden unweit von Sacre-Cur malen, touristisches Namedropping inklusive. Moulin Rouge, Cancan und die Bohème kommt vor, die neben den Phrasen Freiheit, Schönheit, Wahrheit und Liebe vor allem auf Absinth schwört und wahlweise Toulouse-Lautrec (John Leguizamo) oder Eric Satie (Matthew Wittet) heißt. Hat man doch schon mal von gehört. Nicht dagegen von Christian (Ewan McGregor), einem armen englischen Schriftsteller, der noch kein Buch geschrieben und keine Frau geliebt hat und eben deswegen nach Paris kommt. Wo er auch prompt fündig wird: Satine (Nicole Kidman) heißt die Angebetete. Die eigentlich Schauspielerin werden möchte, ist vorerst das begehrteste Freudenmädchen im Moulin Rouge, dem Hof des Zeremonienmeisters Harold Zidler (Jim Broadbent).
Um die Gunst von Satine wirbt allerdings ein weiterer Herr, der Duke (Richard Roxburgh), der angesichts ihres Berufes die besseren Argumente zu haben scheint, sprich: mehr Geld. Doch Christian erschleicht sich ein Rendezvous mit Satine, erobert ihr Herz und überredet den Duke dazu, eine Show zu finanzieren, die er, Satine und die Freunde aus der Bohème einstudieren. Titel der Veranstaltung: Spektakulär Spektakulär. Erzählt wird die gleiche Geschichte, die im Film abläuft, bloß unter indischen Vorzeichen: Armer Sitar-Spieler liebt Kurtisane, die aber des Geldes wegen dem bösen Maharadscha und nicht ihrem Herz gehorchen muss. Und am Ende, über dessen Form Kunst und Kommerz noch streiten, stirbt jemand.
Soweit wären alle Klischees beieinander, die Luhrmann im Reiseführer und anderen Lehrbüchern finden und in seinen Film einbringen konnte. Es geht ihm nicht darum, den Charakteren eine eigene Tiefe zu geben, die sie vom jeweiligen Stereotyp abheben könnten. Profillosigkeit gilt nicht als Mangel, weil das bevorzugte Spielfeld des australischen Regisseurs die Oberfläche ist. Das hat Luhrmann 1996 in seinem zweiten Film unterstrichen, als er Romeo und Julia mit den Versen von Shakespeare und den Bildern von MTV erzählte. Der Spagat gelang, weil Luhrmann ästhetisch eigenwillig und konsequent genug war, sich nicht nach jeder Szene zu fragen, ob man das überhaupt darf, Shakespeare und MTV.
Um Erlaubnis wird in Moulin Rouge auch nicht gefragt. Luhrmann spaziert durch den Selbstbedienungsladen Populärkultur und greift zu, wenn es ihm gefällt. So eröffnet Kylie Minogue eine neue Deutungsebene des Begriffs "Popsternchen", denn die Sängerin erscheint der betrunkenen Künstlergruppe als Fee aus dem Absinth. So rufen die Tänzer auf dem choreographischen Fest, das dem ersten Auftritt der ins Mythische überhöhten Satine vorangeht, mit Nirvana: Here we are now / entertain us! Das geht eigentlich zu weit, Nirvana als Techno-Version in einem Hollywood-Film. Aber Luhrmann kann man schlecht einen Vorwurf machen, weil ihm nichts heilig ist. Seine Konsequenz besteht darin, einen bildnerischen Einfall mit dem nächsten zu übertreffen und sonst nichts ernstzunehmen. Diese Strategie, das zeigt gerade das Beispiel Nirvana, ist vielleicht nicht unklug in einem allumfassenden System wie dem Pop. Die Band ist daran zerbrochen, dass ihre Verweigerungshaltung gegenüber einer Kultur als Attitüde von dieser Kultur absorbiert wurde. Wenn es schon kein Leben außerhalb der Popmusik geben kann, dann versenkt man sich gleich drei Metaebenen tief hinein. Stefan Raab macht mit dem Fernsehen nichts anderes und das mit Gewinn, aller Blödsinnigkeit zum Trotz: Genauer schaut keiner fern.
Moulin Rouge ist so was wie angewandte Popmusik. Wenn Christian Satine seine Liebe erklären will und nicht weiß, wie er es sagen soll, stimmt er Elton Johns Your Song an. Wenn am Ende die Premiere zu platzen droht, weil der Duke unwillig, Christian unglücklich und Satine ungesund ist, schreitet Zidler durch die Kulissen und fordert mit Queen The Show must go on.
Die Idee, das gesungene Wort im Film an die Stelle des gesprochenen zu setzen, ist nicht neu. In jüngerer Zeit haben Woody Allen (Alle sagen: I love you) und Alain Resnais (Das Leben ist ein Chanson) mit diesem Kunstgriff gearbeitet. Bei beiden blieb die Musik aber außerhalb der Geschichte, etwa als innerer Monolog. In diesem Punkt geht Luhrmann weiter, absurderweise weil er oberflächlicher, leerer ist: Die Logik des Popsongs wird bei ihm zum Prinzip. Christian und Satine dürfen sich danach als das größte Liebespaar aller Zeiten annehmen, und wenn er singt: And you can tell everybody / this is your song, dann erfährt im Bild dazu ganz Paris davon. Dagegen bricht, nachdem Satine Christian notlügend erzählt hat, sie habe ihn nie geliebt, ein Unwetter aus, weil für den jungen Dichter eine Welt zusammen. Das mögen plumpe Effekte sein, aber sie funktionieren ob ihrer pathetischen Aufladung.
Die Konsequenz von Luhrmanns Zitatenwahn reicht hin bis zur Zerstörung. Aus seiner buchstäblichen Umsetzung gehen die Songs kaum unbeschadet hervor. Popmusik ist eine Hure, diesen Schluss legt der Film indirekt nahe. Immer wieder muss sie sich künstlich in den Stand der Unschuld versetzen, muss ihren Zuhörern und sich selbst vorgaukeln, dass es keine Geschichte gibt. Die gerade besungene Liebe ist immer die größte und einzig wahre; als würden Adam und Eva sich jeden Tag zum ersten Mal im Paradies begegnen. Vielleicht geht es in Madonnas Like a virgin ja darum.
Moulin Rouge macht die Lüge der Popmusik sichtbar, weil der Film so tut, als wäre sie wahr. Ihre Käuflichkeit illustriert dabei die beste Szene des Films, in der Christian und Satine ein ganzes Gespräch in gesungenen Zitaten führen. Während Ewan McGregor dafür das Arsenal der Songs bemüht, die die Liebe, die unmögliche eingeschlossen, glorifizieren, vertritt Nicole Kidman die tragisch-pessimistische Linie des Es-kann-nichts-Werden, wofür sich ebenfalls eine Reihe von Beispielen finden lässt. Man trifft sich eine Reflektionsebene darüber bei Paul McCartneys A silly love song.
Baz Luhrmanns ästhetischen Wagemut und inhaltlichen Unernst muss man nicht nur gut finden. Das Problem von Moulin Rouge ist, neben den dramaturgischen Schwächen, ein faustisches. Wer dem Pop seine Seele verkauft, wird auch irgendwann vom ihm geholt werden. Ein Popsong konstruiert eine Welt für die nichtige Dauer von drei Minuten und dreißig Sekunden, danach verpufft er. So können einem zwei Stunden Moulin Rouge auch vorkommen. Nichts für Äonen.
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