Rassismus und Idylle
Mit Jazz-Musik sehen Stummfilme moderner aus. "Stummfilmmusik bedeutete für mich ein sanftes Klavier", sagt der Saxofonist Courtney Pine, der für den Film Borderline eine neue Musik komponiert hat, die auf der jetzt erschienen DVD-Edition zu hören ist. Borderline stammt von 1930, wirkt aber viel jünger. Das liegt zum einen am Jazz, es liegt zum anderen aber auch an der Modernität der Lebenswelt: wie getanzt oder telefoniert wird, welche Frisuren die Menschen tragen, welche Gesten sie machen. Zum dritten ist die Frische seinem experimentellen Charakter geschuldet: Borderline begreift den Schnitt als ein offensives Mittel der Gestaltung, die Kamera spielt mit Nähe und Ferne, Weite und Detail. Unzeitgemäß wirkt nur der subtile Rassismus in einem Eifersuchtsdrama zwischen schwarzem und weißem Paar, das eigetlich gegen Rassismus und Erniedrigung plädiert. Das Klischee, das schwarze Paar (Eslanda und Paul Robeson) mit idyllischer Natur zu assoziieren, während Kultur, also Stadt, den Weißen (Hilda Doolittle, Gavin Arthur) vorbehalten bleibt, ist als solches noch nicht problematisiert. Dem anderen Klischee, der Sexualisierung des schwarzen Mannes, entzieht sich der Film von Kenneth Macpherson und dem britischen Avantgarde-Kollektiv Pool durch eine homoerotische Inszenierung des Begehrens. Wie überhaupt einiges wohltuend unkonventionell ist in Borderline. Die Geschlechterverhältnisse eben oder die Wahl des Drehorts: die Schweiz.
Kenneth Macpherson Borderline. DVD 5, codefrei, 71 Min. (Bonus: 26 Min. liebevoll unprofessionelles Interview mit C. Pine), Inserts: Englisch, Untertitel: Deutsch, Holländisch. Absolut Medien, 19,90 EUR
Utopie und IG Metall
Die "Zukunft der menschlichen Würde", wie ein Redner ohne jede Hybris formuliert, ist 2006 in Berlin nicht durch Rassismus, sondern durch Kapitalismus bedroht. Holger Wegemann hat den Streik der Belegschaft im Bosch-Siemens-Hausgerätewerk (BSH) mit der Kamera begleitet: Von der ersten Empörung über die geplante Schließung über die "längste Betriebsversammlung in der Geschichte der Bundesrepublik" und den "Marsch der Solidarität" bis zum Verhandlungsergebnis der IG Metall, das 400 Arbeitsplätze rettet und 216 freigibt. Was als Tagebuch daherkommt, als Chronik von Zwischentiteln und Aufblenden, erzählt eine Tragödie über den Arbeitnehmer im Turbokapitalismus mit dramatischer Tiefe. Es geht um Verrat und Kompromiss, den Verlust der eigenen Angst und den Traum vom besseren Leben: Irgendwann greifen die aufgewühlten Massen nach den Wolken der Utopie, aber der Augenblick verstreicht ungenutzt. "In dem Moment hätten wir handeln sollen", sagt ein Betriebsrat nachdenklich am Ende. Hamlet auf dem Alexanderplatz.
Holger Wegemann Es geht nicht nur um unsere Haut. 15 EUR, zu bestellen über videowerkstatt.de
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