Reise rückwärts durch das Leben

Kino Volker Koepp unternimmt in dem Dokumentarfilm "Berlin-Stettin" eine Reise durch die Landschaften seines Lebens. Und stößt auf Erinnerungen, die in die Gegenwart führen

"Warum hastn heute bessere Fragen gestellt wie sonst immer“, will Renate von Volker Koepp wissen, als er das Gespräch beendet, Renate aber gern noch weiter sprechen möchte. Die Frage von Renate zielt in die Mitte von Koepps Arbeiten, in dem sein neuester Dokumentarfilm, Berlin-Stettin, einen besonderen Platz behauptet. Die Kunst zu fragen sei bei ihm eine Kunst des Schweigens, hieß es in einem Interview mit der Filmzeitschrift Revolver einmal treffend, woraufhin Koepp erklärte, dass er eigentlich nicht gern rede.

Vielleicht kann man nur mit so einer Methode, die keine Methode sein will, das Vertrauen von Menschen wie Renate gewinnen, einer ehemaligen Meisterin in einem volkseigenen Betrieb in Brandenburg, die den jungen Dokumentarfilmer damals für einen schwulen Schnösel aus der Hauptstadt hielt. Eine Frau, der das Leben einen trinkenden, gewalttätigen Mann zugemutet, deren Stimme das Rauchen geformt hat, eine Frau, die nie putzen wollte nach der Wende, und es schließlich gern gemacht hat. Eine Frau, für die es in der Wirklichkeit von heute nicht diese spezifische Form von Aufmerksamkeit und Wertschätzung gäbe, die sie hier bekommt: für ein Leben, das sich nicht verteidigen muss gegen die Raster, in denen eine hierarchisierte Gesellschaft denkt.

So rasch findet man in die Geschichten, die Volker Koepp in Berlin-Stettin mehr andeutet als erzählt, die er aufliest auf seiner Reise rückwärts durch das eigene Leben. In Stettin wurde Koepp 1944 geboren, in Berlin lebt er, im Raum dazwischen hat er gearbeitet. Koepp ist ein Landschaftsfilmer, die Himmel hängen nicht nur über der Uckermark tief in die Bilder von Kameramann Thomas Plenert. „Mir gefielen die kargen Hügel aus der Eiszeit, die nur Felssteine hergaben, aus Ton und Lehm musste man sich hier Backsteine formen, um die großen Dome und Stadtmauern zu errichten. Auch der Backstein trennte Deutschland seit jeher in zwei verschiedene Bereiche“, erzählt Koepp, der hier erstmals von sich spricht, und häufiger als in früheren Filmen Archivmaterial einsetzt.

Berlin-Stettin zeigt, wie Landschaft und Gesellschaft zusammenhängen: Die Naturaufnahmen malen keine regressiven Idyllen, der politische Diskurs hält sich fern jeder ideologischen Beschwerung. „Es hat sich so ergeben“, sagt Koepp mehrfach, wenn er über sein Leben spricht, und auf diese lakonische Art ergibt sich in Berlin-Stettin eine Mischung aus Themen, die anderswo Furore machen würden: Entvölkerung und Enttäuschung, Vertreibung und Vergewaltigung am Beispiel der eigenen Mutter, 1953, 1968, 1989, Stalins Tod, dazwischen Kinderspiele, Feierabendwitze.

Koepps Film ist ein Erinnerungsfilm, in dem es nicht ums Abklopfen einer Vergangenheit geht, sondern darum aufzuzeichnen, wie sich Veränderung sedimentiert. Deshalb gehören zu Berlin-Stettin nicht nur die alten Bekannten, sondern auch Menschen wie der Don Quichotte in der Uckermark, der gegen die Windräder kämpft, der neuseeländische Hochschullehrer, die polnische Studentin, die am Ende mit ihrer Familie in Stettin feiert.

Volker Koepps Film bleibt offen in viele Richtungen, das macht ihn eindrucksvoll. Das schönste Bild dafür ist das Nachbarsmädchen aus Köpenick von einst, eine Dame mit herrlichem Berliner Dialekt, die beim Versuch, das Kinderspiel, die „Hopse“ namens Berlin-Stettin, vorzuführen, übermütig feststellen muss: „Jetzt bin ich natürlich aus dem Bild raus.“

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Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

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