Resozialisierung der Gefühle

Film Mit Erwartungen an Handlung oder Psychologie wird man hier nur enttäuscht: „Le premier venu“, Jacques Doillons Etüde über das Erwachsenwerden und Liebenkönnen

Jacques Doillons Le premier venu ist ein merkwürdiger Film. Man kann ihm nicht mit Handlung, Psychologie oder dem kommen, was man sonst noch gewohnt ist aus dem Kino. All das, worum es geht, ist immer schon passiert, und all das, was man noch miterlebt, ist Reden im Hier und Jetzt.

Am Anfang kommen Camille (Clementine Beaugrand) und Costa (Gérald Thomassin) aus einem Bahnhofsgebäude. Das steht in einem Provinzkaff an der nördlichen Atlantikküste Frankreichs, Paris, woher Camille stammt und wo sie eine Nacht mit Costa verbracht hat, ist fern. Getreu ihrer Liebestheorie, den „Erstbesten“, „le premier venu“ zu wählen, ist sie Costa hinterher gereist; gleichzeitig wirft sie ihm Vergewaltigung vor. Zwischen diesen Pendelschlägen, bei denen Liebe immer an Gewalt gebunden ist, bewegt sich der Film.

Und vermutlich ist das Reizvolle daran, wie er das tut. Es gibt in Le premier venu ein Tempo, einen Rhythmus, einen Sog, der sich den Bildern verdankt, die auf eine unsichtbare Weise zu tanzen, zu schweben scheinen (Kamera: Hélène Louvart), obwohl in ihnen zumeist kaum mehr als zwei Menschen zu sehen sind, die miteinander reden und dabei wie hospitalistische Zootiere hin- und her- und voneinander weg und hintereinander her laufen. Der Schnitt (Marie Da Costa) fährt in diese Choreografien mit zarter, aber entschiedener Hand und stellt so immer neue Konstellationen, Aufstellungen her.

Pistolenfuchteln

Zu Camille und Costa gesellen sich Cyril (Guillaume Saurel) und Gwendoline (Gwendoline Godquin). Cyril ist Polizist und Kindheitsfreund von Costa, und dass er immer nur als Privatperson in Erscheinung tritt, die autoritäre Bedrohung seines Berufs aber ständig mit sich herumträgt, passt zu der Unentschiedenheit dieses Films. In einer symptomatischen Szene treffen sich Costa und Cyril auf der Straße; Cyrils dauerndes In-den-Arm-Nehmen und Knuffen Costas wirkt dabei wie das Vorspiel zu einem Gewaltakt, zu dem es nie kommt. Gwendoline ist die Ex-Freundin Costas, die Mutter seiner Tochter, die Costa seit drei Jahren nicht gesehen hat, und mit der er dann, als Camille ein Treffen arrangiert hat, über seine Liebesnöte wie mit einer Erwachsenen spricht.

Dabei ist Costa selbst noch ein Kind, ein nervend-nervöser Junge, der pistolenfuchtelnd Posen übt, die er glaubhaft nicht füllen kann, und der nicht weiß, wohin mit seinem Leben. Camille erscheint in diesem Zusammenhang als undurchschaubare Komplizin, die auf der einen Seite Costas prekäres Leben aufräumen will und auf der anderen neue Baustellen eröffnet wie den Überfall eines Immobilienmaklers, der schon deshalb albern wirkt, weil der Makler zwei Köpfe größer ist als Costa und sich trotzdem herumschubsen lässt.

Jacques Doillon, der sich seit je für adoleszente Beziehungsgeflechte interessiert hat, in denen Charaktere eher abgesteckt als erzählt werden, hat mit Le premier venu einen Film gedreht, der nicht einmal ein Schatten, sondern allenfalls ein Hauch des französischen Kriminalfilms ist, in dem sich eine mysteriöse Frau zwischen Kleingangster und Polizist bewegt. Dieses Setting als Nachklang eines Genres ist der Raum, in dem nach etwas gesucht wird, das man erst als Erwachsener weiß, vielleicht nie. Die Inkonsequenz – der Überfall des Maklers hat keine Folgen – ist mitunter unbefriedigend, am hoffnungsfrohen Ende aber doch irgendwie konsequent: Die Enten auf dem Wasser sind hier auch nur aus Plastik.

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Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

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