Mitte Oktober erschien auf der Internetseite des Missy Magazine der Offene Brief einer Autorin, die sich Bernadine Harris nannte. Gerichtet war er an Dieter Kosslick, den Leiter der Berlinale. Der Brief handelte von sexistischen und rassistischen Schmierigkeiten Kosslicks gegenüber der Autorin, die selbst einmal für die Internationalen Filmfestspiele gearbeitet hatte.
Der Text versuchte, etwas schwer Greifbares zu beschreiben: eine Atmosphäre, in der ein starkes hierarchisches Gefälle die Kommunikation bestimmt, in der Situationen in „kollektiver Scham und individueller Erniedrigung enden“. Solche Gefühle sind nicht leicht zu objektivieren – das macht das Reden über Sexismus und Rassismus so schwer, weil Beleidigungen scheinbar nur persönlich sind (und nie strukturell). Deshalb gibt es dafür redundantes verbales Abwehrmaterial: „Hab dich nicht so“, „Überempfindlichkeit“, „verklemmt“ und: „Sind jetzt Komplimente verboten?“
Die Autorin beschrieb allerdings plausibel, dass sie keine Lust hatte, die Herabsetzungen zu internalisieren und sich mit ihrer Scham als Problem zu beschäftigen statt mit den Ursachen dafür. Sie beschloss, so hieß es im Text, auf einer Entschuldigung zu bestehen: „Vielleicht hielt ich das für die einzige Art, die Erniedrigung rückgängig zu machen.“ Die Bitte um ein Gespräch wurde allerdings zurückgewiesen.
Augenrollen für Onkel Dieter
Die Entschuldigung von Kosslick gab es erst, als im Zuge des Falles Harvey Weinstein (den Kosslick schlimm fand) der Brief von Bernadine Harris veröffentlicht wurde. Dann war die Terminsuche, die sich vorher schwierig gestaltet hatte, kein Problem mehr: Das Gespräch fand statt und die Autorin nahm den Text von der Seite.
Über die Gründe lässt sich nur spekulieren – sichtbar geworden ist auf jeden Fall, wie Macht funktioniert: Als Garderobenangestellte im Berlinale-Betrieb kann man hingehalten, nicht ernst genommen werden, während die Öffentlichkeit des Textes, der in interessierten Kreisen die Runde machte, sofortiges Handeln bewirkt. Wobei, und das sage ich auch selbstkritisch, man sich auch fragen kann, was die sogenannte vierte Gewalt eigentlich beruflich macht, wenn investigative Journalisten bei so einer merkwürdigen Geschichte nicht anfangen zu recherchieren.
Zumal die Beschreibung Kosslicks in dem Brief in das Bild passt, das man vom Berlinale-Chef auch dann haben kann, wenn man nicht hinter den Kulissen der Filmfestspiele für ihn arbeitet. Das Augenrollen, die Fremdscham, die Nervosität, wenn Kosslick zu Witzen ansetzt, ja, selbst die um Ausgleich bemühte Arbeit des Apparats um ihn herum – das alles kann man erleben, wenn man sich in eine seiner Pressekonferenzen setzt oder die Berlinale-Galas zu Hause am Fernseher verfolgt.
Als Kosslick 2001 die Leitung der Berliner Filmfestspiele übernahm, war seine, sagen wir, lockere Art in der Außenwahrnehmung ein Moment, das ihn deutlich von seinem Vorgänger Moritz de Hadeln unterschied. Wie peinvoll Kosslicks ermüdende Sprüche sind, lässt sich daran sehen, dass man sich angewöhnt hat, sie zu ignorieren. Kosslicks freimütiges Bekenntnis auf der diesjährigen Eröffnungsgala (Freitag 7/2017), nie ins Kino zu gehen („Das ist mir zu anstrengend, wenn’s neben mir raschelt, hinter mir boxen die immer in den Rücken, und dann knutschen die, und schlürfen an der Coca-Cola rum“), ging durch, als hätte der lustige Onkel Dieter mit den schlechten Witzen, der eigentlich in Versicherungen macht, das auf einer Familienfeier gesagt. Und nicht der Leiter des wichtigsten deutschen Filmfestivals damit – schon auf PR-strategisch depperte Weise – vor aller Welt ausgesprochen, wie wenig ihn das interessiert, was der Kern seiner Arbeit sein sollte: das Kino.
Kosslicks Vertrag als Berlinale-Chef läuft noch bis 2019. Er wird dann 70 Jahre alt sein, ein Alter, in dem man in Rente gehen kann (was Männer, die von ihrer eigenen Bedeutsamkeit überzeugt sind, anders sehen). Dass Kosslick nicht gewillt ist, seinen Ruhestand gänzlich ungestört vom Kino zu genießen, wurde im Frühjahr deutlich, als die ebenfalls merkwürdige Meldung herauskam, seine Nicht-Verlängerung sei beschlossene Sache. Denn zugleich ist zu hören, dass Kosslick selbst sich eine Art Präsidentenamt bei der Berlinale über 2019 hinaus vorstellen könnte.
Für die Zukunft der Berlinale wäre das der Horror. Zwar kann Kosslick auf Zahlen verweisen (was die zuständige Politik womöglich mehr beeindruckt als Fragen nach dem Profil): Das Festival ist unter seiner Ägide aufgebläht worden mit zahllosen Nebenreihen und Sondervorführungen. Diese Betriebsamkeit trägt zwar dazu bei, jedes Jahr Film- und Besucherrekorde vermelden zu können.
Ansehen und Profil des wichtigsten deutschen Festivals wurden darüber aber gründlich ruiniert. Impulse für das Weltkino gehen vom traurigen und uninspirierten Wettbewerb nicht aus, von den Fehlentscheidungen (zuletzt: Maria Schraders berückendes Stefan-Zweig-Biopic Vor der Morgenröte zu ignorieren) ganz zu schweigen. Das Forum, das bei seiner Gründung 1971 tatsächlich in Opposition zum Hauptprogramm stand, ist eine Sektion unter vielen, bei der häufig unklar bleibt, warum ein Film hier und nicht im Panorama, im Wettbewerb oder gar dem AbschlussfilmFüllmassenventilator Perspektive Deutsches Kino laufen soll. Und die Retrospektive orientiert sich an den allgemein-lieblosen, unmöglich avanciert zu nennenden Ausstellungsinhalten der Kinemathek (Science-Fiction), während die spektakuläre Wiederentdeckung des frühen BRD-Kinos (Freitag 6/2017), das cineastische Highlight dieses Jahres, von Locarno aus durch die Filmmuseen der Welt tourt.
Die Rede vom „politischen“ Festival gehört zwar immer noch zum Begleitvokabular des Filmfestivals. Im Jahr 2017 bedeutete das aber auch nur, etwas gegen Donald Trump zu haben. Wie originell. Wie gefahrlos. Wie einfach.
Beamtenhafte Karrieren
Und das wären allein die äußerlich wahrnehmbaren Verfallserscheinungen der Berlinale. Was die inneren Folgen von 16 Jahren Dieter Kosslick sind, erfährt man nur hinter vorgehaltener Hand, weil es an Beschreibungen und Recherchen (siehe oben) mangelt. Dabei muss man kein hochbezahlter Unternehmensberater sein, um zu wissen, dass sich eine Erneuerung fern der gewachsenen Abhängigkeiten nach – 2019 dann – 18 Jahren Dieter Kosslick belebend auswirken könnte.
Es besteht durch das Vertragsende von Kosslick also eine, man könnte fast sagen, historische Chance für die Beauftragte für Kultur und Medien, Staatsministerin Monika Grütters – nämlich mit einer mutigen und klugen Entscheidung in Sachen künftiger Leitung die Berlinale vom großen Gemischtwarenladen („Kulinarisches Kino“) zu einem international bedeutsamen Filmfestival zu profilieren. Am 4. Dezember richtet Grütters dazu eine Veranstaltung im Berliner Haus der Kulturen der Welt aus (das wie die Berlinale zur Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH, kurz KBB, gehört).
Die Tatsache, dass dort neben Regisseur Volker Schlöndorff (einem Mann der Gestern, nicht des Morgen) etwa Kirsten Niehuus, die Geschäftsführerin des Medienboard Berlin-Brandenburg (MBB), auf dem Podium sitzen soll, dämpft die Hoffnungen, die sich mit einer Zeit nach Kosslick verbinden, allerdings empfindlich. Niehuus’ Name wird in Bezug auf die Kosslick-Nachfolge häufig genannt. Eine solche Wahl stünde in der Linie von Kosslicks Berufung (der kam als Geschäftsführer der Filmstiftung NRW) und damit für die Fantasielosigkeit einer Kinokultur, die ihr Personal aus der ästhetischen Ödnis der eigenen Filmförderbürokratie rekrutiert.
Niehuus ist – wie ihre Vorgängerin beim MBB und jetzige Geschäftsführerin der Filmstiftung NRW, Petra Müller – nie mit einem interessanten Begriff vom Kino aufgefallen (oder auch nur: mit einem Begriff). Ihre Arbeit bemisst sich in Erfolgsmeldungen davon, in welchen ausgezeichneten Filmen das eigene Fördergeld steckt, sie zeigt sich auf Set-Fotos mit möglichst prominenten Filmemachern (Freitag 17/2017).
Es regiert in den Institutionen, denen Niehuus oder Müller vorstehen, das Prinzip des roten Teppichs, bei dem es um die Repräsentation des Durchgesetzten geht, um das Dabeisein bei Erfolg und Berühmtheit – und nicht um die Ausprägung einer spezifischen Idee von Kino. Wie sollte jemand mit so lange eingeübter Mut- und Ideenlosigkeit wie – die zudem festivalunerfahrenen – Niehuus oder Müller die Berlinale erneuern können?
Monika Grütters hat eine Chance. Sie zu nutzen, hieße aber zuerst, sich von der Beamtenhaftigkeit zu lösen, mit der Karrieren in der deutschen Filmverwaltung verlaufen – von der Logik, in der für Niehuus oder Müller oder wen auch sonst auf einem hohen Posten in der hiesigen Film-und-Fernseh-Förderwelt als letzter Schritt nur noch die Berlinale-Direktion attraktiv erschiene – und in der Kosslick ja auch deshalb nicht aufhören will, weil es keine Anschlussverwendung für ihn gäbe, kein Festival oder Filmmuseum von seinem gesammelten Sachverstand profitieren wollte.
Die Chance auf eine filmkünstlerisch anregende Zukunft des wichtigsten deutschen Filmfestivals zu ergreifen, bedeutete also vermutlich, über den Tellerrand zu schauen (was in der Bildenden Kunst ja schon länger gemacht wird). Etwa nach Österreich, wo Christine Dollhofer aus Crossing Europe in Linz trotz bescheidener Mittel ein lebendiges, junges, international profiliertes Filmfestival gemacht hat. Oder wo der einstige Viennale-Chef Alexander Horwath gerade die Leitung des Wiener Filmmuseums abgegeben hat, das unter seiner Ägide auf vielfältige Weise zu einer der weltweit ersten Adressen der Cinephilie geworden ist.
Wäre es schön? Es wäre schön!
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