Sandmann, lieber Sandmann

Ost-Retro mit nachgetragenem Pop-Slang Der Filmerfolg "Good Bye, Lenin" als vorläufiger Endpunkt einer Auseinandersetzung mit der DDR im Kino

"Die DDR lebt weiter - auf 79 qm". Am Anfang des Erfolgs war der Slogan. Über eine Million Zuschauer haben bereits in den ersten beiden Wochen Wolfgang Beckers Film Good Bye, Lenin gesehen, eine Marke, die ein Großteil der nationalen Kinoproduktion nie erreicht. Die Gründe für den Erfolg kann man, unabhängig vom Zeitgeist, in der Werbung suchen. Selten hat ein deutscher Film so lange vor dem Start auf sich aufmerksam gemacht. Der erste Trailer zeigte besagten Slogan auf schwarzem Hintergrund, wozu, noch ehe ein Bild zu sehen war, die Eingangsmelodie des Sandmännchens ertönte. Diese Melodie beginnt, ein Standard der Liedbegleitung, mit einem Vorspiel, das den Schlussakkord in zwei Takte auflöst und an den Anfang setzt. Das ist ungefähr die Zeit, die Generationen von Kindern benötigten, um vom Einschaltknopf des Fernsehers zurück zum Sofa zu gelangen. War der Sitzplatz eingenommen, erklangen die hellen Kinderstimmen. Sandmann, lieber Sandmann.

Good Bye, Lenin hat den musikalischen Trick der Einleitung vom Ende her ins Historische geweitet. Wolfgang Becker will die DDR nicht verstehen, indem er erzählt, wie alles anfing, sondern wie alles aufhörte. Der schwarze Hintergrund des Trailers markiert dabei das Zögern der Erinnerung im Moment ihrer Revision. Good Bye, Lenin hat nicht zufällig den Zeitpunkt getroffen, an dem die Wiederaufnahme der DDR-Verarbeitung zusammenfällt mit dem Abstand von den Ereignissen, der dazu nötig ist. In der eröffnenden optischen Pause des Trailers liegt das Bewusstsein dieses Abstands. Anders gesagt: Das Schwarzbild umschließt all jene Versuche, die vom Beginn der neuen Zeit bis heute versucht haben, die DDR filmisch zu erklären.

Offiziell ging die DDR an einem 3. Oktober zu Ende, aber eigentlich hörte sie schon am Tag des Mauerfalls auf zu existieren. Dass sie im Kino noch etwas länger überleben konnte, ist Helmut Kohl zu danken. Der wollte aus der Öffnung des Brandenburger Tores keine stürmische Fußnote machen, sondern einen historischen Akt, und rettete so Peter Kahanes Dreharbeiten zu Die Architekten die gleichwohl anachronistische Kulisse. Die Premiere des offiziell letzten Defa-Films ging dann in der überfrachteten Wahrnehmung des Frühsommer 1990 unter. Geschichten von der hundertsten Resignation vor dem System brauchten sich die Zuschauer in Ost nicht mehr erzählen zu lassen; sie hatten es überwunden.

Dem Kino war die Realität entkommen - in das Schicksal der Architekten fügte sich die erste Phase der DDR-Verarbeitung. Die großen Defa-Regisseure - Frank Beyer (Der Verdacht), Egon Günther (Stein), Heiner Carow (Verfehlung) Roland Gräf (Der Tangospieler) - suchten im Rückblick zu verstehen, was ihnen mit der DDR eigentlich passiert war. Der reflexive Abstand war gering und die Regie-Riege in einer Sprache verhaftet, die sich an den Mauern der (Selbst)Zensur zum kritischen Flüstern und resignativen Schweigen abgestumpft hatte. Im Prinzip machten Beyer und die anderen weiterhin Defa-Filme: Man flüchtete sich vor der Aktualität in die Geschichte und zeigte sich unfähig, nach all den Jahren bedeutungsvollen Nicht-Sagens mit einem Male zur offenen Rede zu finden. Die Langsamkeit, mit der sich die alten Defa-Regisseure von der ihnen zugestandenen Film-Sprachregelung lösten, schlug sich vor allem in Larmoyanz und Ratlosigkeit nieder. So ging die Erstverarbeitung der Geschichte am Publikum vorbei, das lieber die neu gewonnene Freiheit ausnutzte und mit Wolfgang Stumph im Trabi nach Italien fuhr.

Das vielleicht gelungenste filmische Dokument dieser Zeit ist Roland Gräfs Tangospieler, worin Corinna Harfouch und Michael Gwisdek Löcher ins Korsett der überkommenen DDR-Sprachgewohnheiten reißen. Der Historiker Dallow (Gwisdek) hat zwei Jahre im Gefängnis verbracht, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Er ist in einem Studentenkabarett genau an dem Abend als Ersatzmann am Klavier eingesprungen, als die Truppe wegen kritischer Texte verhaftet wurde. Wieder auf freiem Fuß will Dallow nichts mehr mit seinem vorherigen Leben zu tun haben, kein Klavierspiel mehr und keine Rückkehr an die Uni. Er möchte seine Ruhe haben, die ihm der Staat nicht lässt, ständig wird er von zwei Stasi-Mitarbeitern verfolgt. Einmal klingeln sie an seiner Tür, und Dallow öffnet mit den Worten: "Ach, Sie schon wieder." Gwisdek fällt in diesem Moment aus der Rolle des folgsamen DDR-Schülers ins Private. Er quittiert die zermürbende Überwachung wie ein lakonischer Clown. Corinna Harfouch spielt - mit einem ähnlichen Pragmatismus wie Jahre später in Margarethe von Trottas Das Versprechen - die Buchhändlerin Elke, in die sich Dallow verliebt. Sie will ihn nicht so verbittert, wie er ist, er will von seiner Selbstversunkenheit nicht lassen, und dieser Konflikt reicht bis ins Bett, dass im engen Flur steht, weil nebenan ein Kind schläft. Aber plötzlich sagt Dallow-Gwisdek: "Ich komm´ mir vor wie im Kinderferienlager", und das klingt ganz heiter und unberührt vom Mehltau des Politischen, der über allem liegt. "Meine Kinderferienlager waren weniger vergnüglich", lächelt Elke-Corinna. Die Sprachverklemmung ist abgelegt.

Margarethe von Trottas Das Versprechen aus der Mitte der neunziger Jahre repräsentiert die zweite Phase des Umgangs mit der DDR im Film. Mit dem Abstand zur Einheit war die Sehnsucht nach dem einen gültigen Wendefilm gewachsen. Trottas Versuch, Geschichte in großes Kino zu überführen, hat zwei Erkenntnisse befördert: dass man sich wünscht, Hollywood möge sich dem Thema annehmen und dass man hofft, Hollywood möge gerade das nicht tun. Zum einen kann sich Das Versprechen, wie alle Filme einschließlich Good Bye, Lenin, nicht des Eindrucks erwehren, vor dünner Kulisse zu spielen und Massenszenen mit unmotivierten Komparsen nachzustellen. Zum anderen opfert Trotta ihrem Melodram das geschichtliche Einfühlungsvermögen. In Peter Schneiders Dialogen rüsten die Klischees um die Wette, was vermutlich an der Ignoranz des Autors liegt, die er dem Osten entgegenträgt. Die Liebe zum Detail kommt nur auf, wenn die Flüchtlinge am Anfang der Kanalisation entsteigen und als Zeichen ihrer Ankunft auf der anderen Seite ein Westauto umarmen dürfen: "Ich liebe Ford Taunus." In der DDR stößt Schneiders Blick dagegen auf Vokabel-Exotik: Grilletta und Krusta sagen die zu Hamburger und Pizza. Wie putzig. Ähnlich wie es in der DDR die Tendenz gab, noch den letzten Hahnenschrei in Zusammenhang mit dem Weltfrieden zu bringen, streben im Versprechen alle Sätze ins Geschichtsbuch. Margarethe von Trotta hat bei ihrer Liebesgeschichte in den Zeiten der Mauer übersehen, dass es um die Liebe zweier Menschen geht, nicht zweier Systeme.

Die dritte und damit aktuelle Phase der DDR-Renaissance hat 1999 mit Leander Haußmanns Sonnenallee begonnen, der das Reflexionsniveau eine Ebene höher ansiedelte und die Stereotypen der DDR-Gesellschaft zum Tanzen brachte. Das brachte ihm, im Gegensatz zu Good Bye, Lenin, noch den Vorwurf der Verharmlosung ein. Darf man über Grenzsoldaten Witze machen? Ganz sicher war Haußmann sich da selber nicht und hat, wie jetzt auch Wolfgang Becker, seinem Film einen Epilog angehängt, in dem der Protagonist Michael Ehrenreich noch einmal bestätigt, was der Zuschauer gerade gesehen hat: Die Pubertät ist eine schöne Zeit, weil man jung und verliebt ist, und das war auch in der DDR so.

Sonnenallee ermöglichte erstmals eine gesamtdeutsche Rezeption, weil Haußmann und sein Drehbuchautor Thomas Brussig die Jugend des Michael Ehrenreich im Nachhinein nach den Maßgaben der westlichen Populärkultur ausgerichtet haben. Der Westdeutsche kann sich über die DDR-Folklore wie den "Mu-Fu-Ti" amüsieren, während dem Ostdeutschen der absurde Witz an der vormaligen, offiziell humorlosen Realität entdeckt wird. In Sonnenallee wird die DDR zitabel: Wenn Micha zur Liebsten stürmt, bietet ihm der Nachbar Winfried "Paul" Glatzeder das "Beilchen" an, mit dem er sich in Heiner Carows Die Legende von Paul und Paula Zutritt zur Wohnung von Angelica "Paula" Domröse verschafft hat. Was bei Gräfs Tangospieler nur zaghaft aufschien, hat Haußmann kraft seines hervorragenden Ensembles zum Prinzip gemacht: Das Spiel der Darsteller ist privatisiert. In Henry Hübchens unwirschem: "Mach´ doch mal die Hetze aus", mit dem er ungeachtet des anwesenden Parteisekretärs zum Abschalten des Schwarzen Kanal auffordert, lacht die grundlegende DDR-Ambivalenz zwischen privat-maulheldenhaftem Menschenverstand und offiziell-sprachlichem Gehorsam über sich selbst.

Good Bye, Lenin verbindet viel mit Sonnenallee, obwohl Beckers Komik zurückhaltender ist. Genau genommen ist Good Bye, Lenin auch keine Komödie - das Vortäuschen einer DDR, wo keine DDR mehr existiert, damit die aus dem Koma erwachte Mutter (Katrin Saß) genesen kann, ist bloß ein Teil einer Familiengeschichte. Durch den Werbeslogan auf das Illusions-Theater geeicht, mag man den Beginn des Filmes, der mit der Flucht des Vaters (Burghart Klaußner) einsetzt, als störend empfinden. Tatsächlich wird der Clou des Films - das DDR-Theater - zu seiner Crux: Der abrupte Übergang von der ausgereizten Komödie in die tragische Vatersuche des jungen Alex (Daniel Brühl) gelingt wenig glaubhaft. Dennoch gibt es in Good Bye, Lenin großartige Details wie die Miniaturen der Nebendarsteller (Jürgen Holtz, Christine Schorn, Michael Gwisdek) oder die eigens gedrehte Aktuelle Kamera, die die Wende-Aktualität in die DDR-Logik zurückschraubt.

Mit einigem Abstand traut sich Good Bye, Lenin wie Michael Ehrenreich in seinen Tagebüchern der Sonnenallee, die Geschichte der DDR aus einem nachgeborenen Blickpunkt neu zu schreiben. Damit könnte Beckers Film für das neue Deutschland im besten Falle werden, was Jean-Pierres Jeunets Amélie vor zwei Jahren für Frankreich wurde - eine filmische Versicherung nationaler Identität.

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