"Der Teppich hat eine ungeheure Anziehungskraft, sogar auf mich, und man fragt sich, warum eigentlich", sinniert Erika Rabau in einer Pause, wenn sie, die Beine ausgestreckt, an einem Fenster sitzt und dorthin schaut, wo sie sonst immer steht. Erika Rabau ist die Primaballerina der Fotografenschar, seit 45 Jahren arbeitet sie für die Berlinale, ihr Alter bleibt ein Geheimnis. Und sie ist eine Erscheinung, eine kleine Frau mit dünnem Haar, die Lederanzüge trägt und meistens drei Kameras. Samson Vicent hat eine Ausstellung ihrer Bilder kuratiert, vor allem aber einen Film über sie gedreht, den Puck von Berlin, wie es im Untertitel heißt, ein Spitzname, den ihr Blandine Ebinger gegeben hat, wie sie erzählt, die erste Frau von Friedrich Hollaender. So viel zum Alter.
Man erfährt in diesem Film nicht viel über Erika Rabau, aber man bekommt einen Eindruck von der Innenwelt der Berlinale, durch die diese unterhaltsame Person fortwährend eilt. Man sieht das, was die Außenwelt nicht wahrnimmt, nämlich die Momente vor und nach den Fotos, das Warten, das Frieren; oder eben wie Jeff Goldblum - als Erika Rabau ihn bittet, sich mit der Gedächtniskirche im Hintergrund ablichten zu lassen - mit gedämpfter Stimme und durchdringendem Blick sagt: Ich mache alles, was Sie wollen.
Für die Außenwelt ist der Teppich da. Auf dem spaziert die Welt in die Stadt, was die bedeutendste Aufgabe der Filmfestspiele ist und der Grund, aus dem sie ins Leben gerufen wurden. Die Berliner Stadthälfte West sollte nicht abgeschnitten werden von der Welthälfte West bei all dem deutschen Osten, der sie umgab. Das ist lange Jahre her, und in dieser Zeit hat sich naturgemäß viel geändert. Die Stadt, aber auch die Welt.
So gibt es die große Welt und die fremde Welt, den Glamour und die Kunst, das eine braucht die Berlinale, das andere sucht sie, und beides war in diesem Jahr so sauber voneinander getrennt, dass alle zufrieden sein konnten: Der Boulevard, weil er die Rolling Stones und Martin Scorsese, Natalie Portman und Scarlett Johansson sowie - im Panorama - Madonna präsentiert bekam. Und die Kritik, weil ihr in der Konkurrenz des Wettbewerbs Filme erspart blieben, die sich nur dem Kommen eines großen Namens verdankten. Eine andere Geschichte ist, dass auch eine Konkurrenz ohne große Ausfälle ermüden kann in ihrer Mittelmäßigkeit.
Das Bemerkenswerte an der 58. Berlinale war nun aber, dass die fremde Welt so fremd nicht mehr ist. So spielt der chinesische Beitrag Zuo Yuo von Wang Xiaoshuai, der mit einem Silbernen Bären für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, in den komfortablen Neubauwelten einer Mittelklasse, die überall auf der Welt zu Hause sein könnte. Ähnlich wie der Konflikt, den Wang in großer Ruhe entfaltet: Mei Zhu und Xiao Lu sind lange geschieden, als bei ihrer Tochter Hehe Leukämie diagnostiziert wird. Die Suche nach einem geeigneten Knochenmarkspender lässt die Mutter auf die Idee verfallen, ein zweites Kind zu zeugen. Solche Vorstellungen mögen vor dem Hintergrund der Ein-Kind-Politik in China an besonderer Brisanz gewinnen, aber Zuo Yuo interessiert sich dafür kaum - wohl aus diplomatischen Gründen, aber auch, weil die Wünsche und Begehrlichkeiten der aktuellen Lebenspartner als moralischer Brennstoff für das Drama ausreichen. Zuo Yuo heißt "links, rechts", und so führt schon die Universalität des Titels zu der merkwürdigen Überlegung, wie chinesisch man das chinesische Kino als deutscher Betrachter eigentlich gern hätte: Zeugt es nicht vom Ende eines geistigen Kolonialismus, wenn eben nicht nur chinesische Filme eingeladen sind, die auf eine bestimmte Weise exotisch sind, also groß und bunt beziehungsweise klein und karg? Oder zeigt sich im universellen Mittelklassedrama nur die Dominanz einer westlichen Lebensweise, die in alle Welt exportiert werden kann?
Wie immer, wenn von Globalisierung die Rede ist, geht es schon nicht mehr darum, ob man sich das vorstellen kann, sondern nur noch darum, wie man damit umgeht. Denn der weltweite Transfer von Erzählweisen und Geschichten ist in vollem Gange, und das Erfrischende daran ist, dass er nicht nur in eine Richtung verläuft. Der Film Bam gua nat (Nacht und Tag) des koreanischen Regisseurs Hong Sangsoo spielt unter Koreanern in Paris. Was eine ironische Volte ist, insofern sich ein Teil der heute um die 30-Jährigen in Fernost seine Vorstellung von Paris aus den Bildern gebastelt hat, die das französische Kino, besonders François Truffaut von ihm verbreitet hat (und wovon Tsai Ming-Liangs Film What time is it there? vor ein paar Jahren erzählte). Hong hat sich nun eher an Eric Rohmer orientiert - und damit manches Mal auch an dessen Langatmigkeit; er bespielt mit kühler Beiläufigkeit die jedes Mal aufs Neue verlockende Bühne, die Paris als Stadt bildet. Allerdings treten einzig und allein die Nebendarsteller der realen Lebens auf: Austauschstudenten und ein Hals-über-Kopf-Flüchtling, der für einen Sommer durch die scheinbare Leichtigkeit des Seins irrt.
In gewisser Weise wird der globalisierte Film von der Berlinale sogar gestaltet. Längst sind die Festspiele nicht mehr nur Schaufenster dessen, was demnächst ins Kino kommt oder anderswo zu sehen ist. Die Berlinale präsentiert sich heute als riesiger Apparat, der spezialisierteste Angebote für jede Marktlücke bereithält. Für die Nachwuchspflege etwa ist der so genannte "Talent Campus" vorgesehen, und auch wenn in zehn Tagen Workshop keine Regisseure ausgebildet werden, so rundet sich zumindest die Geschichte, wenn mit dem Amerikaner Lance Hammer (Ballast) und dem Mexikaner Fernando Eimbcke (Lake Tahoe) zwei ehemalige Campus-Teilnehmer im Wettbewerb laufen. Eimbckes Film wurde mit dem Alfred-Bauer-Preis geehrt als Film, der "neue Perspektiven der Filmkunst eröffnet". Gänzlich neu ist die Lakonik der zumeist frontalen und starren Einstellungen nicht. Jim Jarmusch hat sie in seinen frühen Filmen mustergültig gepflegt, und Eimbcke ist ein gelehriger Schüler, wo er damit das langsame Leben eines mexikanischen Nestes einfängt. So zählt sein Film, auch wenn man in den dramatischeren Momenten - der Vater des jugendlichen Protagonisten, dem wir durch den Tag folgen, ist gestorben - von Lake Tahoe den simplen Stil eher als Look denn als adäquates künstlerisches Mittel begreift, zu den besten des Festivals. Das gilt für Ballast in gleicher Weise, der - geschult eher am europäischen Kino, der Direktheit der Brüder Dardenne etwa - in unvermittelter Sympathie von den Marginalisierten der Gesellschaft erzählt, die in Trailern ähnlichen Häusern wohnen und damit in Verhältnissen, in denen das Leben sich keine Mühe gibt, verlockend auszusehen.
Bei allem Kulturaustausch innerhalb des aufgeklärten Weltkinos - ein wenig Exotismus fällt doch immer ab. So zeigt ausgerechnet der brasilianische Gewinnerfilm, Tropa de elite (Elite-Einheit) von José Padilha, ein Rio de Janeiro der Elendsviertel, in dem zuletzt in City of God von Fernando Mereilles die Armut pittoresk und die Gewalt krass aussah. Überdies findet Padilha keine rechte Distanz zu der titelgebenden Sondereinheit und ihrer machoiden Auffassung von Kriminalitätsbekämpfung. An Mike Leighs Film Happy-Go-Lucky, den am innigsten geliebten des Wettbewerbs, mag man die Britishness dagegen keinen Augenblick bemäkeln: Die Geschichte von der Grundschullehrerin Poppy Cross (für deren Darstellung Sally Hawkins einen Silbernen Bären erhielt), die sich mit großer Albernheit über das hinwegsetzt, was Erwachsenwerden oder Verantwortungübernehmen heißt, diese Geschichte nämlich wäre ohne britischen Humor ein Trauerspiel.
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