Schießen Sie nicht auf den Pappkameraden

Legende „Politische Korrektheit“ hat es nie gegeben, auch wenn so viele Menschen unbedingt daran glauben wollen. Über die unheimliche Erfolgsgeschichte einer Rede- und Denkfigur

Es geht in dem folgenden Text um Zweifel, die so einfach sind, dass sie jeder haben kann. Einfache Zweifel hören auf einfache Fragen, und die einfachste aller Fragen lautet: Was heißt und zu welchem Ende redet man von „Politischer Korrektheit“? Geredet wird von „PC“ allerorten und permanent – in Zeitungsartikeln, Blogkommentaren, Klappentexten oder ganzen Büchern. In der Edition Suhrkamp etwa ist gerade von Matthias Dusini und Thomas Edlinger ein Band erschienen mit dem Titel In Anführungszeichen. Glanz und Elend der Political Correctness.

Von solch einem Buch, sollte man meinen, müsste doch Antwort zu erwarten sein. Und tatsächlich steht an einer Stelle, „Politische Korrektheit“ stelle eine „schwer zu fassende Diskursformation dar, die zu einem guten Teil über die Projektionen ihrer Gegnerschaften … errichtet wird“, was etwas kompliziert, aber nicht uninteressant klingt. Allerdings scheint dieser Gedanke schon von denen nicht verstanden worden zu sein, die ihn äußern. Denn an zahllosen anderen Stellen bedienen sich Dusini und Edlinger der „schwer fassbaren Diskursformation“ in einer zupackenden Art, die nicht den Eindruck erweckt, dass dabei über „Projektionen“ oder „Gegnerschaften“ reflektiert würde.

Über die Modedesignerin Vivienne Westwood heißt es etwa: „Ihr Kollege Karl Lagerfeld nennt sie eine ‚politisch Korrekte‘“, was die beiden Autoren noch konkretisieren als „korrekt und tyrannisch zugleich“. In Jean-Jacques Rousseau (gestorben 1778) erkennen sie „den vielleicht ersten politischen Korrekten“, und Norwegen firmiert als Beispiel für „skandinavische Musterländer der Political Correctness“. Im irgendwie ironischen, irgendwie aber auch ernstgemeinten Glossar am Ende des Buchs klärt der Eintrag hinter dem Stichwort „Bugaboo“ auf: „sauteurer Kinderwagen, der aus unerfindlichen Gründen als PC gilt“. Über Patrick Bateman, den Serienkiller-Yuppie aus Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho, wird dagegen weiter vorn befunden, er sei „das Gegenteil von politisch korrekt“.

Meinungsfreiheitskämpfer

Das liest man so und wird im Kopf ganz matschig bei dem Versuch, sich damit eine Erklärung auszurechnen: Das, was Vivienne Westwood, Norwegen, einen sauteuren Kinderwagen und Jean-Jacques Rousseau verbindet, ist das Gegenteil einer Romanfigur von Bret Easton Ellis? Wo, bitte schön, geht’s hier zum Sinn? Wenn „Politische Korrektheit“ das alles zusammenhält, dann muss es eine Art Zauberwort sein, die Antwort auf alle Fragen.

Wer „PC“ tatsächlich verstehen will, der muss das Gegenteil von Dusini/Edlinger tun – und den Unsinn auseinanderklamüsern, der in dem Begriff unhinterfragt verklumpt. Um zu begreifen, warum die Legende von der „Politischen Korrektheit/Inkorrektheit“ so attraktiv und erfolgreich ist, muss man ein wenig ausholen.

Den Zeitpunkt, als „PC“ in die weite Welt kommt, kann man relativ exakt bestimmen. Vor 1990 sucht man den Begriff „Politische Korrektheit“ in Pressedatenbanken vergeblich. Das Ergebnis ist: null. Im Laufe des Jahres 1990 ändert sich das, und Anfang der neunziger Jahre steigt die Verbreitung rasant, „PC“ ist der Darling der Debatten dieser Zeit. Der adjektivische Gebrauch ist schon etwas früher belegt, affirmiert wird die Wendung aber auch da nie.

Grund-Folge-Irrtum

Die Legende setzt nun an, wo die verbreitete Meinung von einer einfachen Grund-Folge-Beziehung ausgeht: Am Anfang war die Erfindung „Politische Korrektheit“, das war vielleicht sogar gut gemeint, aber, Sie wissen schon, „gut gemeint“ ist das Gegenteil von „gut“, und selbst wenn, das haben sich doch diese verrückten Amerikaner ausgedacht; wozu brauche ich „Tugendwächter“, die mir vorschreiben, was ich sagen soll? Also musste die „Politische Inkorrektheit“ konstruiert werden als notwendige Antwort, um sich derart legitimiert wehren zu können gegen die Zumutungen der „politisch Korrekten“, um zu sagen, was Sache ist, ohne gleich Rassist oder Frauenfeind genannt zu werden. Beziehungsweise um die erwartbare Bezeichnung schon im Vorfeld zu entwerten. Wer „politisch inkorrekt“ ist, kann kein Rassist sein; er kämpft doch nur für die Meinungsfreiheit.

Klingt gut. Stimmt aber nicht. Es hat nie eine positive Bestimmung von „Politischer Korrektheit“ gegeben, es hat kein Projekt gegeben, keine Gruppe, keine Regierungsbehörde, die mit einem Programm namens „Politische Korrektheit“ Politik machen wollte. „Politische Korrektheit“ kam in die Welt durch Leute, die sie im selben Atemzug ablehnen. „Politische Korrektheit“ war nie etwas anderes als – ein Schimpfwort. Diese Leute sind, um es flapsig zu sagen, alte, weiße, heterosexuelle Männer, die keine Lust darauf haben, dass außer ihnen noch jemand die Welt erklärt. Es sind konservative, reaktionäre Leute, denen die Lockerungsübungen von 1968 am gesellschaftlichen Körper samt seiner Folgen nicht passen.

Das ist grob skizziert, denn „Politische Korrektheit“ ist nicht nur ein Feindbild von alten, konservativen, weißen Männern. Zuträglich war dem Erfolg der Legende zweifellos, dass von Beginn an Linke, die unversöhnt mit dem System oder den Verhältnissen waren, sie dankbar angenommen haben als Ventil ihres Grolls. Und dass Renegaten, die von links nach rechts überwechselten und den Grund für ihre neuen Überzeugungen nicht bei sich, sondern die Schuld bei den anderen suchen wollten, in „PC“ die ideale Erklärung fanden. „PC“ war auch ein wunderbares Mittel, um die Diagonalkarriere durch die politischen Lager als fortgesetztes Rebellentum gegen die Allzuextrem-Ewiggestrigen (und gleichzeitig angeblichen „Etablierten“) zu adeln.

"Tabu", das scheue Reh

Der Kulturkritiker Diedrich Diederichsen hat in dem Band Politische Korrekturen schon 1996 die Legende seziert, auf der „PC“ fußt (und ist dafür im Spiegel mit einem bösen Anschiss bestraft worden). Hinter Diederichsens Analyse stehen einfache Zweifel, und es spricht für den hartnäckigen Erfolg der Legende, dass man auf diese Zweifel heute noch immer verweisen muss, um den Unsinn zu durchschauen, der „PC“ ist. Macht es denn überhaupt nicht stutzig, dass das unheilvolle Walten von „PC“ beklagt wird quer durch alle Lager? Dass rechts wie links wie in der Mitte Publizisten oder auch Menschen wie du und ich sich genötigt fühlen, gegen die „Tabus“ zu wettern, die „PC“ angeblich auferlegt? Bei aller unterschiedlicher Motivation im Detail: „PC“ stiftet scheinbar Einigkeit zwischen den größten Gegnern, den verfeindetsten Feinden. Eine Art Zauberwort eben.

Und wenn man beim Zweifeln ist: Pausenlos und massenhaft finden sich zwar Leute, die sich gegen „Politische Korrektheit“ meinen wenden zu müssen, aber man trifft nie jemanden, der sie verteidigt wie das Grundgesetz. Dabei würde man schon gerne wissen, bei wem man sich beschweren kann darüber, dass er einem „Denkverbote“ ausspricht. Haben die „Gutmenschen“ eine Telefonnummer, dass man da mal anrufen könnte, um zu fragen, ob noch alle Tassen im Schrank sind? Und apropos „Tabu“: Ein „Tabu“ ist eine stillschweigende Vereinbarung, die eine Gesellschaft teilt und an der nicht gerüttelt wird, aber das „Tabu“, dieses scheue Reh, wird in den Auseinandersetzungen um „PC“ andauernd aus seinem einsamen Wald gezerrt vor die Scheinwerfer der „inkorrekten“ Geisterfahrer. Fällt denn wirklich niemandem auf, dass etwas, das endlos öffentlich und medial diskutiert wird, unmöglich ein „Tabu“ sein kann? Und wie blöd müsste eine Gruppierung eigentlich sein, wenn sie es für eine gute Idee hielte, ihre politischen Ziele durchsetzen zu wollen unter einem so unattraktiven Label wie „Politische Korrektheit“?

Foulender Schiedsrichter

Der Erfolg der Legende hat unmittelbar mit der Wendung zu tun. Wenn die Wörter „politisch“ und „korrekt“ gemeinsam auftreten, machen sie einander lächerlich. Es ist kein großes Sprachgefühl vonnöten, um zu wissen, dass „politisch korrekt“ nichts ist, was man sein möchte. „Korrekt“ ist schon ein Wort, das den Charme von einsamen Strebern versprüht. Durch die Kombination mit „politisch“ wird die Abneigung dagegen noch forciert. Politisieren heißt, Sachen aufzublasen, sie an die große Glocke zu hängen. „Politisch“ klingt wie eine Petze, die allen auf die Nerven geht, weil sie permanent Alarm schlägt und man sich dann mit ihr auseinandersetzen muss. In „politisch korrekt“ finden also, vereinfacht gesagt, Petze und Streber zusammen. Und so verschafft die Formel jedem, der sie verwendet, das billige Gefühl von Überlegenheit – Petze und Streber mag keiner.

Außerdem schränkt die Wendung ein: Wenn etwas als „politisch korrekt“ bezeichnet wird, schließt das ein „nur“ oder „zwar“ ein – gesellschaftlich, moralisch oder lebensweltlich darf dieses etwas durchaus „inkorrekt“ sein. So stellt die Betonung „politisch“ den Freifahrtschein für eine „inkorrekte“ Lesart erst aus. Gerade weil etwas lediglich „politisch“ korrekt sein soll, kann (wenn nicht: muss) man wunderbar vom Gegenteil oder all den Aspekten fern des „Politischen“ reden. Darum geht es bei „PC“: Etwas als „politisch korrekt“ abzuqualifizieren ist die diskursive Notbremse des letzten Mannes am Argument des Gegners, die zwangsläufig die rote Karte des „politisch Inkorrekten“ nach sich zieht – mit dem für den „PC“-Diskurs entscheidenden Unterschied, dass der Foulende zugleich der Schiedsrichter ist.

Die selbst- und zugleich missverständliche Wendung „politisch korrekt“ ist der Generalschlüssel zum Erfolg der Legende. Die Bedienungsanleitung liefern schöne Schauermärchen, die bei der Einführung der Legende übernommen wurden und die man auf Nachfrage noch heute erzählt bekommt. Eines dieser Märchen handelt vom Streit um eine Lektüreliste in einem Geschichtsseminar in Harvard, der sogenannte Fall Thernstorm.

Krasse Euphemismen

Studenten beklagen, dass auf der Liste neuere wissenschaftliche Arbeiten fehlen. Laufende Aktualisierung von Seminarapparaten sollte akademischer Standard sein, aber hier geht es um Geschichte, Deutungshoheiten, die Studenten beklagen, die Sicht der Minderheiten und Sklaven fehle im Seminar. Von Konservativen wird die Auseinandersetzung stilisiert und Thernstorm damit zum geächteten „Rassisten“, der „Tugendterror“ feiert Urständ. In US-Veröffentlichungen des Jahres 1990 bekommt das unheilvolle Walten einen Namen, „Politische Korrektheit“ – obwohl Thernstorm, der sich am Ende entschließt, das Seminar nicht mehr zu geben, seinen eigenen Fall in den Darstellungen nicht wiedererkennt; nichts davon sei je passiert.

Eine anderes schönes Märchen handelt vom Entsetzen darüber, auf welche absurden Euphemismen die „politisch Korrekten“ kommen, wenn sie losgelassen werden: Kleinwüchsige Menschen sollen nur noch „vertically challenged“, vertikal Herausgeforderte genannt werden. Krass! Leider verdankt sich dieser Vorschlag einem satirischen Wörterbuch (The official Politically Correct Dictionary and Handbook von Henry Beard und Christopher Cerf, letztes Update 1993), das, ein Klassiker des „PC“-Diskurses bis heute (siehe das Glossar von Dusini/Edlinger), Ernsthaftes mit satirischer Überhöhung vermischt. Mit dem Resultat, dass man beides nicht mehr auseinanderhalten kann und sicherheitshalber alles glaubt. Das dritte Märchen ist ein genuin deutsches und betrifft den Ursprungsort von „PC“: die USA. Die USA sind praktisch, weil den Amerikanern alles zuzutrauen ist. Dort gibt es doch irre Rednecks, eine bigotte Sexualmoral und beliebig viel anderen Unsinn, in dessen Traditionslinie sich eine immer schon ablehnenswerte Erfindung wie „Politische Korrektheit“ bequem stellen lässt. Außerdem sind die USA weit weg, sodass man sich nicht die Mühe machen muss nachzuprüfen, ob die überlieferten Berichte überhaupt stimmen.

Ost-West-Erbe

Die Pointe der ablehnenden Übernahme von „PC“ aus den USA nach Deutschland wird folglich übersehen: Während es, wie Diederichsen schreibt, in der amerikanischen „PC“-Debatte auch gegen den „Einfluß ‚kontinentaler Philosophie‘, besonders französischer Dekonstruktion, ‚left Nietzscheans‘ (wie z.B. Foucault), Marxismus in erneuerten Spielarten (Althusser, Gramsci-Revival)“ geht, glauben die deutschen „Tabubrecher“ gegen etwas „typisch Amerikanisches“ zu Felde ziehen zu müssen. Mit demselben Begriff wendet sich Amerika gegen Europa und Europa gegen Amerika. Muss man auch erst mal hinkriegen.

Denn die Lunte der Legende ist das Glaubenwollen um jeden Preis, die Abschaltung der einfachsten Zweifel: Der Erste schreibt Blödsinn, der Zweite ab, und der Dritte überrascht mit zwei neuen, angeblich astreinen Belegen. Dieser journalistischen Logik verdanken wir den heutigen Zustand. Noch der größte Unfug, der über „PC“ kolportiert wurde, fand seinen Eingang in Lexika, Dissertationen, Zeitungsartikel und Klappentexte sonder Zahl. Ungeprüft wurde alles geglaubt und weitergetratscht, was man wollte und was einem in den politischen und weltanschaulichen Kram passte (Dieter E. Zimmer, Karl Heinz Bohrer e tutti quanti), weil es nach 1989, nach dem Ende des Ost-West-Antagonismus’, natürlich galt, einen deutschen Themenpark für die neue Zeit zu konfigurieren. Hurra, der Historikerstreit konnte wieder aufgekocht werden, und was man über die Juden sowieso immer schon mal sagen wollte, aber ach, Tabu und Denkverbot!

Der Erfolg der Legende ist nach über 20 Jahren so groß, dass „PC“ bis in den Alltag akzeptiert ist als Instrument, mit dem man eine Norm und die Abweichung davon markieren kann (siehe Bugaboo). Als eine Art Richtig-und-Falsch in zeitgenössischem Gewand. Wobei „richtig“ und „falsch“ bei „PC“ in verteilten Rollen auftreten: Hier gilt das, was richtig klingt („korrekt“), gerade als verfehlt, während das, was falsch klingt („inkorrekt“), sich als dennoch berechtigt feiert – man hat es also mit dem richtigen, aber trotzdem Falschen („politisch korrekt“) und dem falschen, aber trotzdem Richtigen („politisch inkorrekt“) zu tun.

Thomas Manns Stundenglas

Klingt verwirrend, erklärt aber Funktion und Erfolg von „PC“. „Richtig“ und „falsch“ sind Kategorien, die moralische Werte betreffen. Die Namen solcher Kategorien unterliegen tatsächlich gewissen Moden des Sprachgebrauchs. Bei „politisch korrekt“ und „politisch inkorrekt“ aber irritieren die Kategorien den Umgang mit den Werten selbst. Werte ändern sich (Bezeichnungen übrigens auch), der gesamtgesellschaftliche Umgang etwa mit Frauen, Homosexuellen oder Schwarzen ist heute ein anderer als vor 40 Jahren, das kann man Modernisierung nennen. Die muss man sich als langsamen Prozess vorstellen, vielleicht so, wie Thomas Mann das Stundenglas beschrieben hat: Lange sieht’s so aus, also ob nichts passiere, aber am Ende, wenn fast der ganze Sand durchgerieselt ist, scheint es auf einmal ganz schnell zu gehen. 1990 wäre ein Zeitpunkt, an dem noch nicht der ganze Sand durch war (das ist er heute noch immer nicht), an dem aber schon zu erkennen ist, dass der Sand dereinst in Richtung Modernisierung gerieselt sein wird, die Zeit für Mysogynie, Homophobie oder Rassismus war dabei abzulaufen. Die Erfindung von „PC“ in diesem Moment ist nichts anderes als das Ausrufen einer Nachspielzeit für die alten, überkommenen Vorstellungen vom Umgang miteinander. Die, natürlich, von den Leuten angepfiffen wird, die diese Vorstellungen vertreten.

Dass „Neger“ eine üble Bezeichnung ist, weil sie bis zum Hals im Bodensatz einer langen Kolonialgeschichte aus Unterdrückung, Versklavung und Ermordung steht, konnte man 1990 schon wissen. Weil es aber plötzlich „PC“ gibt, darf man richtig „inkorrekt“ noch länger so tun, als wisse man davon nichts. Denn „politisch inkorrekt“ funktioniert wie ein Schutzanzug, der gegen das Wissen vom „falsch“ und eine dahingehende Kritik imprägniert. Trickreicherweise sieht der Schutzanzug aus wie das Gewand eines Märtyrers: Seht her, ich traue mich „noch“, „Klartext“ zu reden!

Wobei dafür wiederum Zweifel unter den Tisch fallen müssen. Was riskieren die ach so mutigen „Inkorrekten“ bei ihren Selbstinszenierungen eigentlich? Und ist der Märtyrer nicht eine ins Positive gewendete Opferhaltung, die angeblich die „Korrekten“ so unerträglich macht, weil sie stets darauf pochen? Und wie absurd ist es, wenn Martin Walser, Botho Strauß oder Harald Schmidt im Spiegel seitenweise vor Hunderttausenden Lesern ihre gefährlich „inkorrekte“ Meinung sagen können, die in den finster-„korrekten“ Zeiten öffentlich nicht gesagt werden darf?

Kurz: Bei „PC“ geht es nicht um Argumente, sondern um die Diffamierung einer Sprecherposition, indem man sie als „politisch korrekt“ ridikülisiert. Wenn es einen Amtsvorgänger von „politisch korrekt“ gibt, dann ist das der „Spießer“, von dem irgendwann auch niemand mehr wusste, wo der eigentlich hergekommen war, bei dem sich aber jeder sicher sein konnte, dass das die Bezeichnung ist für alles, was ihm nicht passt und was er nicht sein will. Wenn es „PC“ nicht gäbe, wenn einem die „Inkorrektheit“ nicht scheinbar weiterhin gestattete, Menschen grundlos zu beleidigen, indem man etwa „Neger“ zu ihnen sagt, dann müsste man sich einmal mit sich selbst befassen und der Frage, warum man das Wort mit seiner unseligen Geschichte weiter verwenden will. Das wäre anstrengend, davor schützt „PC“.

Schießen Sie nicht

In der Erfindung von „Politischer Korrektheit“ als selbstentworfener Empörvorlage für die „Inkorrekten“ ist wahr geworden, was Robert Gernhardt 1984 resigniert über Satirefans festgestellt hat: „Daß die alle nicht denken, stutzen, lachen […], sondern glauben wollen. Daß die noch den schwächsten und ältesten satirischen Dreh gutheißen, wenn er nur ihre ohnehin schon felsenfeste Meinung noch ein bißchen untermauert. Daß sie gerne einer Gemeinde angehören würden, der Gemeinde der Unangepaßten zwar, aber doch bittesehr einer mit klarer Satzung, klaren Glaubensartikeln, klaren Riten und klaren Emblemen.“

Der traurige Witz dabei ist, dass Gernhardt auf seine alten Tage freudig mitgemischt hat in dieser Gemeinde der Möchtegern-Unangepassten mit ihren klaren Regeln und einfachen Wahrheiten. Es hat einer alten Redensart zufolge wenig Sinn, um vergossene Milch zu weinen. Natürlich könnten wir uns mit dem Erfolg der Legende von der „Politischen Korrektheit“ abfinden – mit den Lügen, Halbwahrheiten, Abwertungen, dem schieren Blödsinn, der in diesem Zusammenhang behauptet worden ist, mit der Erfindung einer einheitlichen Bewegung, die Rede- und Denkverbote durchzusetzen trachtet. Die Legende ist in der Welt, und jede Begriffsverwendung schreibt sie fort. Einerseits.

Andererseits: „Auch ich fühle mich manchmal sehr alt, sehr müde, erschöpft bis ins Mark. Gleichviel! – ich mache weiter, und ich möchte nicht krepieren, ohne meinen Mitmenschen noch ein paar Kübel Scheiße auf den Kopf geschüttet zu haben. Das allein hält mich aufrecht.“ (Flaubert an Turgenjew am 8. November 1879).

Eben. Und vielleicht ist es unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit ganz nützlich, den berufsinkorrekten Sarrazins, Broders und Harald Schmidts, den Kriegsgewinnlern dieser Legende, sowie ihren nimmermüden, mitfabulierenden Fans mal unter die Nase zu reiben, dass ihr Treiben für denkende Menschen a) durchschaubar und b) arg lächerlich ist. Und wenn die Rede- und Denkweise von der „PC“ nicht aus der Welt zu schaffen ist, dann kann man wenigstens ein Bewusstsein für den Unsinn schaffen, den sie ventiliert – und sie immer wieder mal als das markieren, was sie ist: ein „Pappkamerad“ (Benedikt Erenz), den man sich dahinstellen kann, wo man ihn gerade braucht – Treffer garantiert.

Marc Fabian Erdl veröffentlichte 2004 bei Transcript mit Die Legende von der Politischen Korrektheit. Zur Erfolgsgeschichte eines importierten Mythos seine Dissertation. Von Matthias Dell erscheint im September bei Bertz+Fischer: „Herrlich inkorrekt.“ Die Thiel-Boerne-Tatorte

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