Das Kino erzeugt Bedeutung durch die Wahl des Ausschnitts, den es von der Welt zeigt. Das erste Bild, der establishing shot, mit dem Michael Haneke seinen jüngsten Film Caché eröffnet, gibt sich harmlos. Zu sehen ist eine wild wuchernde Wohngegend im Südosten von Paris. An einer Straßenkreuzung steht ein Haus, das unscheinbar wirkt, weil die Fenster fehlen, aus denen es gucken könnte. Im ersten Stock verläuft eine Milchglasfront, auf dem Dach rankt sich Grün. Das Haus klemmt zwischen Mietskasernen, im Hintergrund erheben sich vielstöckige Neubauten. Passanten laufen durchs Bild, ab und zu quert ein Auto. Je länger das Bild stehen bleibt, desto beunruhigender wirkt der Umstand, dass auf ihm nichts von Bedeutung zu erkennen scheint. Im Off hört man ein Paar sich unterhalten, schließlich erscheinen Streifen auf dem Bild und alle Bewegung in ihm beschleunigt sich. Die Außenaufnahme wird zum Fernsehbild im Schnellvorlauf des Videorekorders. Was wir sehen ist, was das Paar sieht.
What you´ve got is what you see. Das Paar, Georges und Anne Laurent (Daniel Auteuil und Juliette Binoche), hat ein Video erhalten, auf dem der Eingang zu ihrem Haus zu sehen ist. Wer kommt, wer geht. "Zwei Stunden geht das so weiter", sagt Anne. Das Video zeigt nichts von Bedeutung und bedeutet den Laurents zugleich, dass sie gesehen werden. Der unbekannte Beobachter erpresst die Laurents nicht mit pikanten Details, sondern legt durch seine Überwachung einen schleichenden Verdacht: Wo etwas gesehen wird, muss auch etwas passiert sein.
Aus dieser Unschärfe erwächst das Unbehagen an einem bürgerlichen Leben, das bei Michael Haneke oft scheinbare Idyllen erschüttert. In Funny Games (1997) waren es die brutalen Dandys von nebenan, die in die heile Welt einer Familie einbrachen. In Wolfszeit (2003) hält eine Flüchtlingsgruppe das Ferienhaus besetzt, in das sich die mitteleuropäischen Protagonisten zurückziehen wollten.
Auf den ersten Blick wirken die Laurents wie eine glückliche Familie. Georges reüssiert mit einer Literatursendung im Fernsehen, Anne arbeitet in einem Verlag, gemeinsam bejubeln sie die Erfolge, die Sohn Pierrot (Lester Makedonsky) beim Schwimmen erringt. Erst die Videos, eingepackt in Kinderzeichnungen, die einen Kopf mit blutendem Mund zeigen, bringen die Ordnung ins Wanken. Weil die Polizei keine Hilfe leisten kann, solange Unsicherheit das einzige ist, was die Familie befällt, ist es an den Laurents, allein mit dem Problem fertig zu werden. Jeder auf seine Weise: Während Anne offen über die merkwürdigen Videos spricht, versucht Georges seine Mutmaßungen geheim zu halten, Pierrot fühlt sich vernachlässigt.
Die rätselhaften Botschaften führen in die Kindheit des heutigen Fernsehmoderators. Einmal ist das Gut zu sehen, auf dem Georges aufgewachsen ist, ein prächtiges Anwesen aus einer Zeit, in der die Herrschaftsverhältnisse klar geordnet waren und die Welt dort endete, wo die Linie des Horizonts verlief. Die Kamera, gleichsam: das Auge desjenigen, der die Laurents beobachtet, spricht, indem sie zeigt. Dass die Laurents auf den Bändern immer nur ihr Leben wieder erkennen, macht aus der Überwachung einen Blick in den Spiegel, ist Motor der Erinnerung, Antrieb zur Selbstreflexion. Tatsächlich bricht Georges wenig später zu einer Fahrt in die Kindheit auf, besucht die kranke Mutter (Annie Girardot) und wird in der Nacht von einem Albtraum geplagt. Ihm erscheint Majid, gleichaltriger Sohn eines algerischen Angestellten seiner Eltern, der mit blutigem Mund in einer lakonisch-brutalen Szene einem Hahn den Kopf abschlägt und mit dem Beil auf Georges zuläuft.
Ein weiteres Video, das den Weg zu einer schäbigen Sozialwohnung beschreibt, setzt Georges auf die Spur von Majid (Maurice Bénichou), der ein alter, trauriger Mann geworden ist. Er bestreitet, mit der Überwachung der Laurents etwas zu tun zu haben, und doch findet sich kurz darauf bei Georges Chefredakteur ein Band, das just die Szene zeigt, in der die Kinder von einst sich wieder begegnen. Später alarmiert Georges die Polizei, Majid und sein Sohn (Walid Afkir) werden verhaftet und wieder geschieht: nichts.
Michael Haneke hat mit Caché einen Krimi inszeniert, in dem der Fall nie gelöst wird. Die Suche nach dem Täter bleibt ergebnislos und überdeckt - zumindest aus Georges´ Sicht - alles, wozu eine Kriminalhandlung gewöhnlich Vorwand ist: zur Freilegung der psychosozialen Deformationen von Opfer und Täter. So wie die Bilder stumm sind, weil sie scheinbar nur zeigen, was sowieso zu sehen ist, so sind es die Dialoge. Das Gespräch, das Majid mit Georges führen will, kommt nicht zustande. Der Konflikt bleibt unausgesprochen, weil Georges permanent davon redet, dass es nichts zu reden gibt. In der erschütternsten Szene des Films, die Haneke als Meister der Plötzlichkeit einmal mehr als unmittelbaren Einbruchs von Gewalt in die Trägheit der Normalität inszeniert, nimmt Majid sich das Leben, das es mit ihm, anders als mit Georges, nie gut gemeint hat. What you see is what you get.
Manche von Michael Hanekes Filmen, etwa Bennys Video (1992), leiden unter dem offen zur Schau gestellten Moralismus des österreichischen Regisseurs. Andere, wie zuletzt Wolfszeit, unter dem vagen Raunen, indem die Suche nach Schuld und Erlösung ungehört verhallt. In Caché glückt beides: Auf dem Grund des Meeres der Verunsicherung, durch das Georges, angetrieben von den ominösen Videobotschaften treibt, liegt das Bleigewicht eines ungesühnten Verbrechens. Den Kern von Caché bildet der nur am Rande erwähnte Mord an zweihundert Algeriern, die 1961 von der Pariser Polizei erschossen wurden. Eine Vergangenheit, die Frankreich verdrängt hat, und die durch die Geschichte von Majid in Georges´ Leben wiederkehrt. Das fremde Kind - durch das Pariser Massaker zum Waisen geworden, von den Gutsherren der Eltern adoptiert und nach der Intrige des eifersüchtigen Sohnes Georges wieder abgeschoben - ist der blinde Fleck auf der weißen Weste der bürgerlichen Gesellschaft Westeuropas. What we see is what we´ll get.
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