April 1978, Ingrid Caven chante liest man auf den Plakaten in Paris, vom "schwarzen Engel" in den verzückten Kritiken, danach. Paris hat eine neue Chanteuse, die es lieben kann wie seinen ewigen Spatz. Eine deutsche Schauspielerin, "Frau Fassbindär". Für die zweite Auftrittsserie im August wird das Pigalle am Montmartre eigens umgebaut.
So ging einmal eine Erfolgsgeschichte, die davon handelte, wie eine bekannte deutsche Schauspielerin, die mit einem noch viel bekannteren deutschen Regisseur nicht nur Filme gedreht hatte, sondern auch verheiratet war, zu einer bekannten deutschen Chanteuse in Frankreich wurde. Wann genau die Erfolgsgeschichte angefangen hat, lässt sich schwer sagen. Vielleicht tatsächlich mit dem Schminken vor dem Auftritt, der Star-Werdung, dem Übertritt in die Kunstfigur, den der Lebensgefährte der bekannten deutschen Schauspielerin resp. Chanteuse für den Eingang seines Buches erwählt hat. Aus dem wiederum ist jetzt auch eine Erfolgsgeschichte geworden. Und so wiederum dauert die Erfolgsgeschichte der bekannten Deutschen weiter an. Ganz schön viele Erfolgsgeschichten. Also der Reihe nach.
Jean-Jacques Schuhl, der Lebensgefährte, von dem keiner so genau weiß, was er eigentlich getan hat in all den Jahren nach seinen beiden kleinen und wenig maßgeblichen literarischen Veröffentlichungen Rose poussière (1972) und Telex no. 1 (1976), bekam im Herbst letzten Jahres den Prix Goncourt zugesprochen, den auflageversprechendsten französischen Literaturpreis, der seine Wirkung nicht verfehlt hat: Bislang sind über 200.000 Bücher verkauft. Der Nunmehr-Bestseller trägt den Namen seiner Frau, der bekannten deutschen Schauspielerin und Sängerin Ingrid Caven, und im Untertitel den Hinweis Roman, schließlich ließe es sich leicht mit einer Biographie verwechseln. Schuhl erzählt darin nämlich in präzisen, filmisch anmutenden Bildern vom Leben Ingrid Cavens, stilisiert endgültig, was nur auf seine mythische Überhöhung zu warten schien: der erste Auftritt der Fünfjährigen, Stille Nacht, heilige Nacht vor Wehrmachtsoffizieren, von den Krankheiten, der Heilung, der Begegnung mit Fassbinder - der bei Schuhl immer nur Rainer heißt und der Frau Caven, wie es aus anderer Quelle heißt, nach eigenem Bekunden vor allem ehelichte, um ihr Sicherheit zu geben. Was immer das sein mag.
In jedem Falle hat Ingrid Caven ihren Weg gefunden, von Fassbinder getrennt, was vermutlich die einzige Möglichkeit war, ihm wirklich nahe zu sein. Und ihn künstlerisch zu überleben - in einem Kapitel widmet sich Schuhl Fassbinders 18-Punkte-Plan die Vita der Caven betreffend, den man bei seinem Tode fand. Die Vorhersagen dieses Drehplans vom raschen und wenig ehrvollen Ende fanden nicht statt. Ingrid Caven gibt es immer noch, und es ist ihr nicht schlecht ergangen nach dem Erfolg von Paris 1978. Tourneen, Filmauftritte, bejubelt gar in Amerika. Schuhl an ihrer Seite. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sie sich nicht wohl fühlt mit diesem Lauf ihrer Karriere. Bei Schuhls Buch aber, das gekonnt erzählt und geschickt montiert ist, darf man schon fragen, ob es, was die Dimension seines Erfolgs angeht, nicht ein wenig kalkuliert war. Ob also nicht eher die äußeren Umstände - der Name, das fürwahr stilisierenswerte Leben seiner Frau -, denn seine inneren, literarischen Qualitäten für die begehrte Auszeichnung ausschlaggebend waren. Andererseits gab es, gerade in den letzten Jahren, auch vor Schuhl schon Preisträger, die seitdem kaum mehr als ein Versprechen geblieben sind.
Ingrid Caven kann das egal sein. Sie hat die ganze Zeit getan, wozu sie Lust hatte, darin dürften sich ihre Auftritte im Lichte runderneuerter Popularität kaum von den vorhergegangenen unterscheiden. Sie sind, wie auch das Gastspiel am Théâtre de Rond-Point an den Champs-Elysées Ende Januar gezeigt hat, mehr als eine Reprise des Ruhms.
Wenn der Vorhang sich öffnet, darf man das wohl programmatisch nehmen. Denn es geht lediglich ein kleines, türbreites Rolleau hoch im schwarzen Bühnenverhang, und wie es Rolleaus so an sich haben, tut es das wenig galant, es zippelt und zappelt, und noch ehe das Publikum seine Erwartungsfreude in Applaus entladen kann, schmettert ihm die zierliche Chanteuse Enzensbergers Der Abendstern entgegen. Das ist eigentlich schon das ganze Prinzip Caven: Das Unerwartete, die Verweigerung herkömmlicher Unterhaltungsmuster, das Unfassbare - sich eventuell wohlmeinenden Umarmungen der Zuhörer von vornherein zu entziehen. Ingrid Caven, 62, präsentiert sich hundertprozentig heutig und damit als das komplette Gegenteil des Katja-Ebstein-Abends, des Brecht/Weill-Potpourris, mit dem das gute alte Früher noch einmal aufgewärmt werden soll. Zwar singt auch sie Klassiker, auch - neben von Peer Raben vertonten Fassbinder-, Arno Schmidt- oder Schuhl-Texten, neben den selteneren Schönberg, Berio, Cage und Satie - Brecht und Weill und sogar Je ne regrette rien, aber dann hackt sie darauf rum mit aller Harschheit, die ihr ihre deutsche Zunge in der französische Sprache bietet. Dass jeder Hauch missverständlicher Nostalgie ausgetrieben werde, schließlich gibt es dafür ja auch keine Entsprechung im Französischen, für Nostalgie.
Was die Inszenierung angeht, ihren Stolz, ihre Kühle, darin erinnert Ingrid Caven durchaus an Marlene Dietrich, die sich, auch eine denkwürdige Parallele an diesem Ort, kaum hundert Meter weiter, in der teuren Avenue Montaigne die letzten Tage ihres langen Lebens versteckt hielt vor der Demaskierung durch die Öffentlichkeit. Ingrid Caven indes braucht sich nicht zu verstecken, weil sie die Demaskierung selber besorgt, weil sie sich traut, was die Dietrich lieber mit 15 Jahren Einsamkeit bezahlte: die eigene Ikonenhaftigkeit zu brechen. Sie dreht dem Publikum den Rücken zu oder legt sich gleich auf den Boden, stakst, stolziert nicht, über die Bühne, gebärdet sich wie ein Derwisch und dann wieder ganz sanft, singt mit Elvis vom Band und konterkariert in ihrer Emotionslosigkeit den immerfort kopfwackelnd-lächelnden Jay Gottlieb am Piano, ist trotziges Kind und erhabene Diva in einem. Textfetzen wie Jean-Jacques Schuhls Mort - Kennedy Airport würden bei jeder anderen wohl lächerlich wirken, aus dem Munde Ingrid Cavens kommen sie als Teil einer großen Inszenierung, die unaufhörlich auf der Grenze zwischen Größe und Abgrund balanciert. So wie man in jeder Sekunde Angst hat, sie könne fallen über das doch viel zu lange Kleid von Yves Saint Laurent - auch ein mythisches Motiv aus Schuhls Aufzeichnungen -, das immer noch so matt-ledrig glänzt, wie es in den 80er Jahren en vogue war.
Aber Ingrid Caven fällt nicht. Sie steht. Und ein paar Meter von ihr entfernt, für den Großteil des Publikums jedoch unsichtbar, Jean-Jacques Schuhl mit einer Kamera, sein Glück im Blick. Er das Dunkel, sie das Licht. So wird es wohl vermutlich bleiben, auch wenn die Erfolgsgeschichte jetzt für beide gilt.
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