So ein Bad-Wismar-Gefühl

Premiere Dieter Schumann hat einen ergreifenden Film über die Werft in ­Wismar und den Stolz der ­Arbeit gedreht. Dann sollten ihn die Protagonisten sehen

Dies ist keine Wirtschaftsreportage. Es ist eine Geschichte über einen Film, Wadans Welt, der in Wismar spielt, in dieser Woche zuerst in die Kinos Mecklenburg-Vorpommerns kommt und im Untertitel Von der Würde der Arbeit heißt. Und es ist eine Geschichte, die davon erzählt, wie der Film sich in der Wirklichkeit ausnimmt, die er zeigt.

Die Geschichte handelt also von Bildern, von Gesprächen, von Eindrücken. Eine Wirtschaftsreportage würde von Zahlen handeln. Am Ende liefe es wohl aufs Gleiche hinaus, die Zahlen wie die Bilder, Gespräche, Eindrücke. Das Ende ist nicht happy, wiewohl der Film ein schönes, zumindest ein mildes Ende hat – es findet sich ein neuer Investor. Es ist ein Ende, mit dem der Zuschauer besser leben kann als mit der Wirklichkeit, die immer weiter geht und in der nichts gewonnen zu sein scheint. Es ist eine Geschichte, in der ein Glaube erschüttert wird, den man aus dem Kino kennt und den man zum Leben braucht, der Glaube, dass es morgen besser werden könnte, als es heute ist. Oder zumindest nicht schlechter. Es geht um eine Einübung ins Weniger.

Nur noch ganz kleiner Bahnhof

Wismar also. Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland eigentlich. Vielleicht nicht auf den ersten Blick, weil das ganze andere Deutschland besser aussieht. Kann sein, dass Wismar, dass Mecklenburg-Vorpommern die Ausnahme von Deutschland ist, vielleicht bleibt es das aber nicht. Auf den Karten, auf denen die Arbeitsagentur ihre Zahlen in Farben verwandelt – und hier soll es schließlich nicht um Zahlen gehen – ist der Südwesten blass und der Nordosten kräftig getönt. Die Farbe, in der die unterschiedlichen Zahlen angezeigt werden, ist grün. Was merkwürdig ist, weil Probleme in Statistiken häufig mit rot markiert werden. Rot ist eine Warnfarbe. Grün sieht schöner aus. Der Landkreis Demmin etwa, der deutschlandweit am dunkelsten gefärbt ist, strahlt auf diese Weise etwas Beruhigendes aus, er erinnert an eine Wiese. In Wismar ist das Grün auch ziemlich satt. Mag sein, dass es Zufall ist, vielleicht ist es aber auch Konzept, das Grün. Die Deutschlandkarte wirkt so friedlich und gesund.

Die Fahrt nach Wismar führt über einen Umweg, über Bad Kleinen. Ein traditionsreicher Kurort, der für den Bahnverkehr, der sich hier in roten Regionalexpresszügen vollzieht, immer noch eine große Rolle spielt, weil sich in Bad Kleinen die Himmelsrichtungen kreuzen. Ein Begriff ist Bad Kleinen der jüngeren Geschichte vor allem wegen dieser RAF-Sache, wegen des 27. Juni 1993, der Schießerei auf dem Bahnhof, der Verhaftung Birgit Hogefelds, des Todes von Wolfgang Grams und des Polizisten Michael Newrzella.

Interessant für unseren Zusammenhang, für das Weniger, ist daran, welches Leben 1993 auf dem Bahnhof von Bad Kleinen noch geherrscht hat. Wenn man die Berichte über die rätselhaften Umstände von Bad Kleinen daraufhin durchgeht. Hogefeld, Grams und der V-Mann Steinmetz hatten sich in der Bahnhofsgaststätte namens Billard-Café getroffen, heißt es etwa. Man muss sich das Billard-Café nicht als heimeligen Ort vorstellen, aber es gab 1993 immerhin noch eine Bahnhofsgaststätte, die geöffnet hatte. Heute ist das bunkerhafte Bahnhofsgebäude zwischen den Gleisen von fast allen Zwecken verlassen. Es gibt einen Gang mit hoher Decke, der zu Toiletten führt und von dem ein Warteraum abgeht, in dem weiße Tische und weiße Stühle stehen, deren Rückenlehnen und Sitzflächen aus Draht geflochten sind. An der Wand hängt optimistische Kunst. Der Warteraum wartet selbst, auf ein Leben, das sich hier nicht mehr abspielt. Gesetzt den Fall, man müsste warten in Bad Kleinen – dieser Raum in seiner stillen, anonymen Bereitschaft sieht aus wie der Grund, es gerade hier nicht zu tun.

In den Berichten über die Schießerei kommt eine Zeugin vor, die einen Kiosk auf einem der Bahnsteige betrieben hat. Die Bahnsteige sehen zwar noch so aus wie vor 20 Jahren. Einen Kiosk würde man hier aber nicht mehr suchen. Auf einem verwitterten Snack-Automat steht „Have a break“, eine werbliche Ermunterung, die an Strahlkraft eingebüßt hat. Alles, was über einen Schokoriegel oder eine Getränkeflasche hinausgeht, muss man dabei haben, wenn man heute über Bad Kleinen fährt. Der Bahnhof selbst ist kein Ort mehr, er ist reduziert auf die Gleise, an denen Züge halten. Hier kann sich, gerade wenn man aus einer großen Stadt kommt, die Laune trüben: Kapitalismus sieht nur belebt richtig gut aus. Der Bahnhof von Bad Kleinen wirkt wie das übrig gebliebene Set eines Films, der lange abgedreht ist. Das Bad-Kleinen-Gefühl. Kein Einzelfall. „Have a Break“ ohne Ende.

Wismar ist 20 Minuten weg. Eine schöne Stadt, die alte Hanse, das Zentrum, die Kirchen renoviert, die Hochschule mit ihrem Plexiglas modern und hoffnungsfroh, darin dem Rest etwas fremd. An diesem zweiten Mai-Sonntag hat Wadans Welt hier Premiere.

Es ist ein Film über die Stadt, ein Film für die Stadt konnte man denken, als er auf dem Dokumentarfilmfestival in Leipzig im letzten Jahr Premiere hatte. Dieter Schumann und sein Dramaturg Jochen Wisotzki präsentierten einen Film, der aus dem Rahmen fiel. Die Konkurrenz handelte von Migrationsgeschichten, von schwierigen Kindheiten in einem Heim in Sachsen-Anhalt, von Schützenfesten auf dem Land, von einem überaus dynamischen Kunstbuchverleger in Göttingen. Das sind die Stoffe der Zeit: Randerscheinungen, Einzelportraits, Unerzähltes, das durch die Aufmerksamkeit der Kamera sichtbar gemacht wird.

Harte Arbeit, dreckige Arbeit

Wadans Welt passte dort nicht hinein. Der Film ist groß wie die Werfthallen und schwer wie die Schiffe, die dort gebaut werden. Er zeigt ein Heer von Arbeitern, die nicht als Einzelschicksale erzählt werden müssen, damit den Betrachter deren Geschichte bewegt. Es ist wie der Blick in ein Museum: Fast hätte man vergessen, dass es so was im Deutschland des 21. Jahrhundert, im „Land der Ideen“ noch gibt: harte Arbeit, dreckige Arbeit. Männer, die Bilder von nackten Mädchen an ihren Spinden haben und davon selbst schon lange nicht mehr beeindruckt zu sein scheinen. Und: stolze Männer, manche arbeiten seit Generationen im Schiffbau. Beim Filmfestival in Toronto, erzählt Dieter Schumann, haben die Kanadier verstanden, woher „deutsche Wertarbeit“ komme – aus diesem Sinn für Kontinuität, durch die Weitergabe von Wissen. Im Film erzählt einer, dass die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse ja immerfort positiv erklärt werde, öfter mal was Neues und so. Dabei sei doch ein Arbeiter mit 30 Jahren Erfahrung einer, den sich jeder Chef nur wünschen könne.

Die Umwertung der Werte in den Arbeitsverhältnissen macht Wadans Welt nachvollziehbar. Ein Betriebsrat erklärt im Film, dass die Werft in irgendwelchen Aktienpaketen gehandelt wird, von denen man nicht weiß, auf welcher Börse sie gerade den Besitzer wechseln. Der Besitzer der Werft ist zum Zeitpunkt des Drehs ein lustiger Russe, dem sich jeder Satz nach fünf Wörtern in ein mächtiges Lachen ergießt. Ein Gute-Laune-Bär, ein Strohmann nationalökonomischer Interessen, der sich wie ein Kind in den Reichtum verirrt hat. Gebauchpinselt zeigt er sein nobles Büro, von dem aus er nur wenig später die Werft in die Insolvenz geführt haben wird. Dagegen stehen die Bilder von den Arbeitern im tristen Pausenraum; über den Gang in die Transfergesellschaft, sinkende Löhne, gefährdete Arbeitsplätze machen die Arbeiter sich keine Illusionen mehr. „Wir sind immer die Doofen“, sagt einer. Dabei wollen sie eigentlich nur ihre Ruhe haben, das heißt: ihre Arbeit machen.

Bilder für Banker

Die Menschen, die in der Werft arbeiten, sind keine Randgestalten, sie bilden die Mitte der Gesellschaft in Wismar. Das kann man über Aktienhandel und Globalisierung vergessen. Schumann berichtet von der Vorführung in der Kanzlei des Insolvenzverwalters. Die Sekretärin war in Tränen aufgelöst, einer der Anwälte habe mit nachdenklichem Blick gesagt, den Film müsse man einmal den Bankern zeigen, damit die wüssten, was sie anrichten.

In Wismar kann man die Werft nicht übersehen. Fast bedrohlich richtet sie sich am Ende der Straße auf, an der auch das Theater liegt, in dem Wadans Welt vorgeführt wird – die riesige Montagehalle. Heute steht dort „Nordic Yards“, der Besitzer ist wiederum ein Russe, er spricht allerdings fließend deutsch und wirkt überhaupt seriös. Ob er allerdings etwas ausrichten kann im globalen Wettbewerb mit der relativ kleinen Werft, gemessen an den asiatischen Konkurrenten, bleibt offen.

Wie wichtig die Werft für Wismar ist, kann man auch an der Premiere sehen. Der Bürgermeister schwingt sich zum euphorischen Filmkritiker auf, erzählt von seiner Fahrt nach Berlin in die Landesvertretung, wo Wadans Welt im Februar schon einmal gezeigt worden war. Wenn die Werft verschwinden sollte, fehlen in Wismar nicht nur die 1.400 Arbeitsplätze, die es während der Dreharbeiten noch gab, oder die 700, die es aktuell sind. Das merken alle. Die Frau eines Werftarbeiters sagt, man könne den Grad der Krise an den Autohäusern sehen: „Werftarbeiter kaufen noch Mittelklassewagen.“

Ihr Mann erzählt im Film eine der berührendsten Geschichte: Wie er jahrelang gewartet habe aus Skepsis vor der neuen Unsicherheit mit Hausbau und Autokauf. Und als er sich sicher fühlte nach über 15 Jahren Westen, kam die Insolvenz. Er gehört zu denen, die wieder angestellt worden sind. Das muss nichts heißen, das weiß er selbst, denn wenn man über den Film hinausschaut, dann zeigt die Entwicklung der Werft nach der Wende in eine Richtung: Sie strebt gegen das Weniger. Und der Trend hält an, die Auftragsbücher müssten voller sein. Der Gewerkschaftssekretär erzählt nach der Vorführung von alternativen Überlegungen, dass das Land selbst an der Werft beteiligt werde, statt immer nur Fördergelder zu geben. Aber die Politik scheue diesen Schritt, das sei in diesem System nicht vorgesehen.

Die Wismar-Premiere von Wadans Welt am späten Sonntagnachmittag ist dann eine kleine Enttäuschung. So aufwühlend der Film ist, so wenig spürt man dieses Gefühl im Saal. Das Theater ist nicht einmal halbvoll. Es kann an der mangelnden Werbung gelegen haben, dem schönen Wetter, aber Scham spielt wohl auch eine Rolle: Was sollen die entlassenen Arbeiter sich ein Leben anschauen, das sie nicht mehr führen? „Knolle“, ein sympathisches Großmaul mit prächtigem Lech-Walesa-Bart, einer der Protagonisten, habe sich entschuldigt, erklärt Dieter Schumann. Er arbeite mittlerweile als Leiharbeiter in Hannover und die Fahrgemeinschaft reise immer schon Sonntagabend los.

Vier Stunden nach Beginn der Veranstaltung ist Dieter Schumann fast allein. Vor dem Theater ist es noch warm und hell, ein schöner Frühlingsabend. Das ist ein Bild der Jetztzeit in Wismar: Wenn die Arbeit verschwunden ist, bleibt nur die Kultur. Schumann kommt aus der Gegend, ein Bär von Mann, der früher selbst zur See gefahren ist aus Romantik. Für das Fernsehen macht er Filme über die Region, über ein legendäres Bäckerbrüderpaar, über die ältesten Fischereirechteinhaber. Und nun fürs Kino über die Wismarer Werft. Seine Filme sind die Realtität, das, was darin zu sehen ist, Vergangenheit.

Was man daraus für die Zukunft lernen kann, ist eine offene Frage. Dass am Ende nur die Kultur, nur der Tourismus bleibt? Bad Wismar? Das Gefühl sagt einem, dass das kein Trost sein wird.

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Wadans Welt läuft am 19. Mai in den Kinos an

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