Apropos: Film 2004, das umfängliche, großformatige Jahrbuch der DEFA-Stiftung, hat immer zwei Seiten im Blick: die Gegenwart des deutschen Kinos und die Vergangenheit des (ost)deutschen Films. Nun sollte man meinen, dass dieser Anspruch am besten dort eingelöst wird, wo sich beides verbinden lässt. Der Schwerpunkt "Schauspieler und Film", mit dem das Buch eröffnet, ist jedoch sein schwächster Teil, und man ist geneigt zu sagen: gerade weil er für seine Erkundung des zeitlosen Themas nur Ausflüge in die DEFA-Vergangenheit unternimmt.
Der Filmemacher Egon Günther (Der Dritte, Die Schlüssel) vergleicht in einem fabulierfreudigen Essay die Arbeit des Regisseurs mit dem Schauspieler mit der von Falkner und Falke. Das liest sich nett, hat aber ob des Anekdotenreichtums ("So oder ähnlich mein Telefongespräch mit Inge Keller. Nach Jahren. Ich wollte Sie für Junge Frau von 1914 besetzen") eher den Anschein einer Vorarbeit für noch zu schreibende Memoiren. Das Gespräch mit der Schauspielerin Jutta Wachowiak (von Christel Gräf) und das - detailreiche - Interview mit dem Schauspiellehrer Dieter Wardetzky (von Werner Buhss) machen auf den interessierten Leser schon deshalb einen irritierenden Eindruck, weil sie im distanzlosen "Du" gehalten sind. Während Buhss sich nicht uneitel als gelehriger Schüler inszeniert, kann man sich bei mancher Frage der einstigen DEFA-Dramaturgin Christel Gräf des Eindrucks einer unpassenden Sentimentalität nicht erwehren: "Die Tonqualität war bei den DEFA-Filmen immer ein großes Problem, genau wie die Empfindlichkeit des ORWO-Materials, aber wenn man bedenkt, was unter diesen technischen Bedingungen für Filme produziert wurden, dann grenzt das manchmal an Wunder." Statt der vorauseilenden Rehabilitierung einer als bedroht empfundenen Lebensarbeitsleistung hätte der aufgeschlossene Leser von heute - ein anderer wird zu dem ausführlichen Buch kaum greifen - vielleicht lieber genaueres erfahren über die Hemmnisse des wissenschaftlich-technischen Fortschritts bei Ton und Lichtempfindlichkeit im Filmwesen.
Aufschlussreich ist das Gespräch mit Armin Mueller-Stahl, der durch seine weite Entfernung aus der DDR - erst in den deutschen Westen, später in die USA - nüchtern und erfahrungsgesättigt auf sein Leben als Schauspieler zurückschaut. So erzählt er etwa, dass gerade der dauernde Druck, den er vor seiner Ausreise in der DDR empfunden hatte, ihn vor Fehltritten im der BRD geschützt habe. Serien-Angebote (als Lowitz-Nachfolger in Der Alte, als Professor Brinkmann in Die Schwarzwaldklinik) lehnte Mueller-Stahl ebenso ab, wie er sich der Eingliederung in den Fassbinder-Clan entzog: "Ich wollte keine Krallen". Auf die Frage, warum er in der Fernsehserie Das unsichtbare Visier in den siebziger Jahren die Rolle eines ostdeutschen James Bond übernahm, der im Geheimdienst der Stasi ermittelte, antwortet Mueller-Stahl: "Es ist doch fatal, heute so zu tun, als hätte man die Dinge immer nur in Opposition zum Staat gemacht, als wäre man immer nur im Widerstand gewesen. Ich hatte doch lange gar nichts gegen die Stasi." In solchen Momenten wird deutlich, worin der politische Gewinn eines Spartenprodukts wie des DEFA-Jahrbuchs liegen kann. In der Ruhe der Langstreckenlektüre ist die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Problematischen der Vergangenheit möglich. Der Kalte Krieg muss nicht mehr gewonnen werden, sondern wird zum Gegenstand einer unvoreingenommenen Analyse.
Das gilt vor allem für den geschichtlichen Teil, der die fünfziger Jahre der DEFA im Spannungsfeld zwischen Ost und West an zwei Filmen (Wolfgang Staudtes Der Untertan und Martin Hellbergs Das verurteilte Dorf) und zwei Personen beleuchtet (den Regisseuren Falk Harnack und Slatan Dudow). Harnacks Fall, den Günther Jordan Der Verrat übertitelt hat, liefert ein Exempel, wie die hoch trabenden Vorstellungen vom Sozialismus in der Streichholzschachtel kleingeistiger Bürokratie landeten. Für seinen Film Das Beil von Wandsbeck (1951) der davon erzählt, wie ein Biedermann zum Henker der Nazis wurde und dabei auf grelle Pädagogik verzichtete, wurde Harnack derart angefeindet, dass er schließlich in den Westen übersiedelte. Ein Mann, der die Hinrichtungen des Widerstandskreises "Weiße Rose" unter den Nazis glücklich überlebt hatte, musste sich von dem Staat, den er für das bessere Nachkriegsdeutschland hielt, "als kleinbürgerliches, zurückgebliebenes und zurückbleibendes Element" bezeichnen lassen.
Etwas weniger bitter schmeckt die Ironie der Geschichte im Fall von Das verurteilte Dorf. In der DDR wird 1952 ein Film gedreht, der aus propagandistischen Zwecken den letztlich erfolgreichen Widerstand westdeutscher Bauern gegen die Errichtung eines amerikanischen Truppenübungsplatzes thematisiert. Kurze Zeit später, als in einer Aktion mit dem bezeichnenden Namen "Ungeziefer" das DDR-Grenzland zur Bundesrepublik geräumt werden soll, sieht sich der ostdeutsche Staat mit einem Aufbegehren in der Bevölkerung konfrontiert, das sich just auf den zur Stimmungsmache gedachten Film bezieht. Etwas schade an Inge Bennewitzens Beitrag ist, dass er sich auf den Ost-West-Streit konzentriert und nicht näher auf die faschistisch geprägte Ideologie vom Heimatboden eingeht, die hier in einem DEFA-Film fortgeschrieben wird.
Im Teil zum aktuellen Filmgeschehen "apropos: Film 2004" fällt Claus Lösers profunder Überblick über Fatih Akin und das türkischstämmige Kino in Deutschland auch deshalb positiv auf, weil er sich der Unschärfe eines solchen Labels für eine heterogene Gruppe von Filmemachern bewusst ist. Der finale Schwerpunkt zu den deutsch-russischen Filmbeziehungen vollführt einen sinnvollen Dreisprung durch die Geschichte. Barbara Schweizerhof, Redakteurin dieser Zeitung, gibt einen Überblick über den gegenwärtigen Stand des russischen Kinos. Michael Hanisch hat Berliner Kritiken sowjetischer Filme in der unmittelbaren Nachkriegszeit gesichtet, an denen sich nachvollziehen lässt, wann die unvoreingenommene Betrachtung einer Politik der Parteilichkeit weichen musste. Und der Eisenstein-Experte Hans-Joachim Schlegel, der ebenfalls für diese Zeitung schreibt, moderiert köstliche Erfahrungsberichte russischer Filmschaffender, die in den zwanziger Jahren in Deutschland gearbeitet haben. Diese Außenperspektiven bieten eine überaus lehrreiche Lektüre, weil sie die Probleme einer industriellen Filmherstellung kühl benennen (Eisenstein über Metropolis: ein "agitatorischer Auftragsfilm der Deutschen Bank": "Originellweise halten die Deutschen diesen Film für revolutionär"), aber mit dem Lob nicht geizen (Pudowkin: "Hier fragt der Zoll nur nach Kaviar und Zigaretten, gibt sich aber mit einer einfachen abschlägigen Antwort zufrieden"). Nicht ohne Ironie ist, dass Wladimir Jerofejew schon damals bemerkt, was der Schauspiellehrer Wardetzky im Prinzip noch heute beklagt: "Es gibt zwar wunderbare Technikums für die Ausbildung hochqualifizierter Filmtechniker, aber überhaupt keine Schulen für die Ausbildung von Schauspielern."
DEFA-Stiftung (Hg.): apropos: Film 2004. Das 5. Jahrbuch der DEFA-Stiftung. Bertz + Fischer, Berlin 2004, 320 S., 150 s/w Abb., 19,90 EUR
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