Eine Reihe, die Perspektive Deutsches Kino heißt, beginnt immer bei null, auch wenn die Retrospektive des deutschen Films im vergangenen Jahr geradezu euphorisch ausfallen muss. 2003 war das Jahr, in dem die vier vielleicht interessantesten und darüber beständigsten deutschen Filmemacher (Hans-Christian Schmid, Christian Petzold, Oskar Roehler und Andreas Dresen) genau diesen Eindruck bestätigten und mit Lichter, Wolfsburg, Der alte Affe Angst sowie noch der Kurzdokumentation Herr Wichmann von der CDU herausragende Filme vorlegten. 2003 war das Jahr, in dem Caroline Link für Nirgendwo in Afrika den Oscar gewann, Wolfgang Beckers Publikumserfolg Good bye, Lenin gleich eine Reihe von Auszeichnungen bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises erhielt und Katja Riemann für ihr Spiel in Rosenstraße zur besten Darstellerin in Venedig gekürt wurde. 2003 war überdies das Jahr, in dem junge Filme wie Ulrich Köhlers Bungalow, Hans Steinbichlers Hierankl, Michael Hofmanns Sophiiiie oder Stefan Krohmers Sie haben Knut eine ästhetische Eigenwilligkeit probten, die zu mancher Hoffnung berechtigt.
Kurz: 2003 war das Jahr, in dem der deutsche Film so gut war, wie er eigentlich nicht mehr sein kann, seit Fritz Lang emigriert ist oder Fassbinder gestorben. Daraus ist nicht zu folgern, dass das deutsche Kino demnächst mit Hollywood konkurrieren oder in Cannes das Preis-Niveau der siebziger Jahre erreichen wird, wohl aber zu lernen, dass die hiesigen Filmschaffenden in der Lage sind, den Rahmen, den das momentane Fördersystem lässt, mit Produktionen auszufüllen, die wesentlich ambitionierter und vielfältiger sind, als es das Genre der Beziehungskomödie eine Dekade lang glauben machen wollte. Das bestätigt ein Blick in die kleine Berlinale-Sektion Perspektive Deutsches Kino.
Den nachhaltigsten Eindruck im zwölf Filme umfassenden Programm hinterlässt Andrea Schulers und Oliver Ruts´ Dokumentarfilm Flammend´ Herz. Darin wird die heute inflationär akzeptierte Tattoo-Kultur in eine Zeit zurückverfolgt, als man von Tätowierten sprach und gesellschaftlich Geächtete meinte. Karlmann Richter, Herbert Hoffmann und Albert Cornelissen, drei "eighty-somethings", um es mal so rüstig zu sagen, stehen im Mittelpunkt einer Recherche, die um die erste deutsche Tätowierstube kreist, welche Hoffmann im Hamburg der sechziger Jahre eröffnete. Die Lebensgeschichten der drei "Tätowier-Kumpel" versprühen den Geist einer verlorenen Epoche, in der ein Seemann als Inbild des Männlichen galt und der Weg zur sexuellen Selbstbestimmung von den Schranken der Konvention verstellt war; der aus großbürgerlichen Verhältnissen stammende Karlmann Richter war über sechzig, als er Frau und Sohn verließ, um in der Männerfamilie von Hoffmann zu wohnen. Mehr noch als die Entlegenheit seines Themas beglückt Flammend´ Herz durch die Eloquenz der Protagonisten. Hoffmann, Richter und Cornelissen berichten in demütiger Eleganz und mit sprödem Witz von sich, den Tattoos und dem Alter.
Solch erzählerisches Vermögen hätte man sich von den vier Freunden aus Armeetagen gewünscht, die Holger Jancke in einem Selbstbefragungsexperiment 18 Jahre nach Ende der gemeinsamen NVA-Zeit an der Mauer zusammengetrommelt hat. "Boja", "Lohengrin", "Mückfried" und "LSD-Wölfi" schmoren aber zumeist im maulfaulen Saft ihrer privaten Erinnerung, womit sich die Dokumentation Grenze in die Reihe jener Filme einreiht (Drei Stern Rot, Hundsköpfe), die daran scheitern, aus dem offensichtlichsten Konflikt der deutschen Teilung künstlerisches Kapital zu schlagen. Lediglich in der Begegnung mit einem Flüchtling, der die Grenze durchbrach, als Janckes Kollegen dort stationiert waren, wird etwas von der Brisanz spürbar, die der Film hätte haben können.
Als programmatischer Film der Perspektive-Reihe empfiehlt sich Marcus Mittermeiers dokumentarisierende Fiktion Muxmäuschenstill, weil hier alles Unfertige mit dem Mut aufgewogen wird, ein Kino abseits der Konvention zu suchen. Mux - gespielt von Jan-Henrik Stahlberg, der auch das Drehbuch verfasst hat - ist ein kompromissloser Kulturkritiker, der tätige Wiedergänger des Herrn Wichmann von der CDU, ein wohlmeinender Kleinbürger, der sich von Südafrikanern im Regionalexpress mit "Nothing for ungood" verabschiedet, aber sonst das Übel der gesellschaftlichen Makroebene im Blick hat und auf der Mikroebene bekämpft. Mux schraubt Rasern das Lenkrad ab, kontrolliert Schwarzfahrer in der U-Bahn, geht gegen jugendliche Gewalttäter vor und packt noch jeden bei seiner Verantwortung für Würde, Anstand und Respekt im Zusammenleben. Sein hochmoralisches Sheriff-tum lässt er dokumentieren, um später ein "Schulungsvideo für die Gesellschaft" zu erstellen. Das Geschäft expandiert in einer Zeit, in der Roland Koch, Stefan Raab und Dieter Bohlen das Werteverständnis prägen, und schon bald kann Mux neben dem Langzeitarbeitslosen Gerd eine Schar von Mitarbeitern mit der Überwachung von Anstand und Moral beschäftigen. "Was mich am meisten nervt, ist, dass ich Recht habe und sich trotzdem nie was ändern wird", sagt der Sozialrambo einmal, der so geschickt zwischen Selbstgerechtigkeit und Tugendhaftigkeit balanciert, dass man ihn nicht unsympathisch finden wird, ohne deshalb einem neuen Messias zu huldigen. Muxmäuschenstill ist, obwohl zwischendurch die dramaturgische Luft knapp wird, von einem erfrischenden Furor, wie man ihn gerade in Erstlingsfilmen selten hat.
Man könnte es auch mit dem Berliner Rapper Fuad sagen: "Sein eigenes Ding zu machen, dazu brauchst du auf jeden Fall zwei richtig große Eier." Fuad hat neben sprechsingenden Kollegen aus dem hauptstädtischen Untergrund einen kurzen Auftritt in Till Hastreiters anarchischem Szene-Bild Status Yo!, das es sogar ins Forum der Berlinale geschafft hat. Ähnlich wie bei den großen amerikanischen HipHop-Filmen aus den achtziger Jahren (Beat Street, Wild Style) wird die filmästhetische Einfachheit überdeckt von der Liebe zum Gegenstand und der verbalen Energie der Protagonisten.
Etwas von dieser Lust am Ungehorsam findet sich auch in Patrick Tauss´ Film Der Typ, der wie Muxmäuschenstill über einen prägnanten Hauptdarsteller verfügt (Stipe Erceg) und Dialoge mit ungekanntem Witz. Der Typ ekelt sich durch eine Frankfurter Nacht, legt sich mit Türstehern, Barfrauen und Opelfahrern an und sehnt sich - da hat der Ungehorsam leider schon sein Ende - schlussendlich doch nur nach Liebe im bürgerlichen Gewand.
Unterwegs von Jan Krüger schützt sich vor falschen Gefühlen dagegen durch eine Lakonie, wie sie in Bungalow zur Meisterschaft geführt wurde. Umstandslos, in harten Schnitten und ohne zusätzliche Musik schaut Krügers Film einem jungen Paar mit Kind zu, das auf einem Campingplatz den aufreizend-undurchsichtigen Marco kennenlernt. Der überredet die Kleinfamilie zur Weiterfahrt an die polnische Ostsee, wo ein Hahnenkampf um die Frau in der Dreiecks-Konstellation beginnt. Krügers Film bezieht seine Intensität dabei aus der Kühle der Distanz, die den Urlaubsalltag zum Banalen stempelt und vor der jede Laune als Ausbruch eines schwelenden Konfliktes erscheint.
Eine Solidität im besten Sinne verbindet Zwischen Nacht und Tag von Nicolai Rohde und Mitfahrer von Nicolai Albrecht. Beide Filme eint der Bedacht, mit dem sich die Erzählung entwickelt, gleichwohl sie um völlig verschiedene Themen kreist. Zwischen Nacht und Tag zeigt Richy Müller als U-Bahnfahrer, der im traumatösen Leerlauf gefangen ist, eine Frau (Nicolette Krebitz) überfahren zu haben, während Mitfahrer ein bittersüßer Episodenfilm über das Reisen mit Unbekannten durchs Deutschland der Autobahnen ist. Der dramatische Gehalt von solch geheimnislos-praktischen Zivilisationsleistungen wie der Mitfahrzentrale hält sich naturgemäß in Grenzen, aber das Talent des Filmemachers erweist sich nicht am Stoff, sondern an dessen Beherrschung. Und dabei überzeugt Albrecht ebenso wie Rohde.
Ernsthaft ärgerlich unter den Langfilmen des Programms ist allein Tal der Ahnungslosen von Branwen Okpako. Eine afro-deutsche Kommissarin zieht nach Dresden, wo sie mit ihrer Vergangenheit zwischen Kinderheim und Stasi-Familie konfrontiert wird. Die interessante, weil selten gestellte Frage nach einem Rassismus in Deutschland jenseits der plakativen Ausländerfeindlichkeit von Rechtsextremen lässt der Film jedoch unbeantwortet, weil er vor Betroffenheit schon in die Knie geht, noch ehe er seine groben Konflikte überhaupt formuliert hat.
Als Neuheit präsentiert die Perspektive Deutsches Kino in ihrem dritten Jahr vier Kurzfilme, von denen jedoch nur Transport beeindruckt: Silvio Helbigs gekonnt ausgestattetes Science-Fiction-Szenario einer hermetisch verwalteten Welt. Blind von Saskia Jell, Charlotte von Ulrike von Ribbeck und Leise Krieger von Alexander Dierbach haben allenfalls abschreckende Wirkung, da sie ob ihrer klischierten Konflikte - Unerwiderte Liebe! Verstörung! Liebesunfähigkeit wegen Kindheitstrauma! - und einer unfilmischen Inszenierungsweise, die sich zuerst an lässlichen Äußerlichkeiten orientiert, den deutschen Nachwuchsfilm schlechter machen, als er ist.
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