Über das Verhältnis von Politik und Literatur gibt es eine schöne Anekdote in Michael Angeles melancholischen Erkundungen Ankunft Weltende, halb zwölf. Beschrieben wird eine Veranstaltung aus der Zeit, als es "unter Politikern gerade Mode (war), sich mit Künstlern und Intellektuellen zu zeigen." Rudolf Scharping, damals Verteidigungsminister, hatte zu einer Lesung des durchaus geschätzten Autors Jochen Missfeldt in den Bendler-Block geladen, aber der für den Abend vorgesehene Dialog zwischen Minister und Künstler wollte nicht recht zustande kommen, weshalb der Leiter des Presse- und Informationsstabes der Bundeswehr, ein gewisser Herr Borckenhagen, immer wieder an einen mythischen Kabulflug erinnerte, auf dem die Konversation offenbar besser funktioniert haben musste.
Der bemühte Moderator versinnbildlicht die Schwierigkeiten, die junge deutsche Autoren haben, wenn sie auf Politik treffen. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist der Ernstfall eines Schreibens, dem in der Sozialisation von in den siebziger Jahren Geborenen keine Erfahrung gegenübersteht. So verkommt der Zugriff auf politische Sujets zum Sozialkitsch wie in Zoe Jennys Ein schnelles Leben oder bleibt als Souvenir von Stipendiatenrecherchen in Krisengebieten rein äußerlich wie bei dem Dramatiker Falk Richter, der für sein Stück Peace die Kamera aus dem Fenster des Busses hielt, der ihn vom Flugplatz zur UN-Mission in Bosnien brachte. Das ist also der Krieg.
Die 1974 in Bonn geborene und in Leipzig lebende Juli Zeh macht diesbezüglich eine wohltuende Ausnahme. Die Stille ist ein Geräusch, ihre letzte Veröffentlichung, war das Reisetagebuch einer Bosnien-Fahrt, die den Fokus der Krisenaffirmation durch eine produktive Ratlosigkeit vor dem Krieg ersetzte. Juli Zehs neuestes Buch heißt Spieltrieb. Darin wagt sie den Versuch, die Verfassung der Gesellschaft unserer Tage darzulegen. Es spricht für die Autorin, dass sie trotz der gut 600 Seiten Umfang keiner Nebenschauplätze oder Parallelhandlungen bedarf, sondern mit einer epischen Kondition, an deren Ausdauerkraft man von Anbeginn wenig Zweifel hat, zwei - auf der Romanebene - relativ aktionsarme Jahre an einem Bonner Gymnasium schildert. Politisch ist die Zeitspanne deutlich markiert: 2002 bis 2004 oder Erfurt, Irak, Madrid. Die Zeitgeschichte ist in Spieltrieb allerdings nicht bloßer Komparse, sie liefert die Regieanweisungen für die Machtkämpfe an der Schule.
Ernst-Bloch heißt das Gymnasium, an das in den Zeiten des Terrors die 14-jährige Protagonistin Ada versetzt wird, Kindfrau wie das literarische Vorbild Nabokovs; von ihrer früheren Schule war Ada nach dem Einsatz eines Schlagrings verwiesen worden. Ernst-Bloch benennt den Glauben an einen guten Ausgang der Geschichte, der Anachronismus geworden ist, weil die Geschichte selbst zu Ende ist: Einen Tag vor den Anschlägen von Madrid springt der Geschichtslehrer Höfling vom Dach des Gymnasiums.
"Wir sind die Urenkel der Nihilisten. Die Nihilisten glaubten immerhin, dass es etwas gebe, an das sie NICHT glauben können", ist das Credo Adas und ihrer gesichtslosen Klassenkameraden. Seelenverwandter der 14-jährigen Ada wird der zwei Jahre ältere Alev el Qamar, nach eigenen Angaben "Halb-Ägypter, Viertel-Franzose, aufgewachsen in Deutschland, Österreich, Irak, den Vereinigten Staaten und Bosnien-Herzegowina". Wenn Gott tot ist, wird auch der Teufel arbeitslos, was eine Erklärung dafür sein mag, dass seit Thomas Manns Doktor Faustus die Teufelsgestalten selten geworden sind in der deutschen Literatur. Der atheistische, heimatlose Alev trägt diabolische Züge: "Seine Augen, deren Winkel wie bei einer Sphinx auf die Schläfen zielten, waren leicht geschlitzt. Die Brauen bildeten breite, schwarze, seitlich aufwärtsstrebende Striche, die Fingernägel der rechten Hand trug er lang und pflegte sie mit einer Feile." Gleichzeitig votiert er gegen den Dualismus von Gut und Böse und für eine Synthese beider Prinzipien, die er, der sich selbst als Gott gedacht hat, wiewohl er von den Mitmenschen eher als Teufel wahrgenommen wird, am besten verkörpert.
Der Grat zwischen dem Göttlichen und Satanischen ist schmal in einer Zeit, in der Ada ihren Glauben nur mehr als Relikt einer kulturellen Prägung zu Kindertagen empfindet. So schmal wie die Trennlinien der Tartanbahn, auf denen sich die kalte, harte, schnelle Langstreckenläuferin Ada bevorzugt bewegt. Die Ununterscheidbarkeit der moralischen Pole führt Juli Zeh in zwei Szenen vor, in denen sie die allwissende Erzählerin in die Innenperspektive ihrer Protagonistin verlegt. Die Gewalt, deren Opfer Ada einmal wird und die sie ein anderes Mal selbst ausübt, entzieht sich einer distanzierten Bewertung, weil sie in Großaufnahme gezeigt wird: Da verschwimmen die Konturen von gut und böse.
Moral und Religion sind als große Erzählungen, die das Leben in der Gesellschaft organisieren, für ungültig erklärt. An ihre Stelle tritt das Spiel, das in einem befristeten Rahmen Regeln gestattet. Das Gefangenendilemma der Soziologie, demnach Kooperation oder Verrat zweier einzeln befragter Schuldiger von der Aussicht auf eine Zukunft abhängt, ist das Muster gemeinsamen Handelns. Im Präsens obsiegt der Egoismus. Ziel des Spiels, das Ada und Alev verabreden, wird der polnische Deutsch- und Sportlehrer Smutek, dessen Lieblingswerk, Musils Mann ohne Eigenschaften, die Folie für Juli Zehs Buch bildet. Ada verführt Smutek, was Alev fotografisch dokumentiert, um Smutek zur dauernden Wiederholung des verbotenen Liebesakts zu zwingen. Eine Erpressung mit redundanter Forderung, die Smutek, wie Ada immer stärker hofft, die Befreiung aus seiner unglücklichen Ehe bringen soll. Und aus Alev, das ist der Verrat, den er an seiner Schwester im Geiste begeht, insgeheim einen besseren Schüler machen soll.
Spieltrieb ist ein Buch, das die vor allem moralische Verwirrung der Welt auf einen Schulkörper projiziert, an dem Politik und Gesellschaft, Staat und Terror diskutiert werden. Ein Gedankenroman, der mutig genug ist, die Leerstellen der Gegenwart der Zukunft fragend entgegenzuhalten. Der öffentlichen Betroffenheitsroutine nach dem Erfurter Amoklauf steht Adas privates Wissen gegenüber, dass es sich bei der Gewalttat nur um die sichtbare Spitze eines Eisbergs handelt in einer Zeit, in der alles Verhalten, wie Alev sagt, allein auf "Feigheit, Dummheit, Eigennutz" basiert. Die Frage eines Schülers, warum Musil den heraufziehenden Antisemitismus im Hause Fischel nicht strenger verurteilt habe, beantwortet Smutek mit der Gegenfrage, ob jemand wüsste, wer und was heute zu verurteilen sei.
Der Fluchtweg vor dem Pessimismus bietet sich, wenn Ada und Smutek nach Aufdeckung und Verurteilung des Spiels nach Bosnien-Herzegowina reisen. "Es ist spät, sie haben Hunger und keine Landeswährung. Das ist ihre Rettung." Die Befriedigung des Hungers als bescheidenstem Wunsch der Menschheit ist das Fundament von Blochs Denken der Utopie, an dessen Anfang das Paar somit zurückversetzt wäre. Andererseits ist der Epilog als Fantasie der Ich-Erzählerin ausgewiesen.
Juli Zeh: Spieltrieb. Roman. Schöffling, Frankfurt am Main 2004, 565 S., 24, 90 EUR
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