Ums Ganze

Im Kino Gefühle, die größer sind als die Scheu vor dem eigenen Ungeschick. Valeska Grisebachs Mär von dem Dorfe: "Sehnsucht"

Ein Unfall. Ein Paar ist verunglückt. Ein Mann, der erste Hilfe leistet, Markus, Schlosser und freiwilliger Feuerwehrmann in einem dieser Brandenburger Dörfer, deren Schönheit nicht so rasch sichtbar wird wie die von Orten im Süden Deutschlands. Der Unfall, der ein Selbstmordversuch war, ist ein Ereignis im Dorf. Kinder fahren mit ihren Rädern dem Geheul der Sirenen nach, Leute eilen über die Wiese herbei. Markus´ Kollegen von der Feuerwehr staunen über die Entschlossenheit, die zu einem Freitod mit Abschiedsbrief gehört: "Musst dich erst mal überwinden, vor den Baum zu fahren." Markus drückt sich mit Zweifeln ob seiner Erste-Hilfe-Leistung bei jemandem, der keine Hilfe mehr wollte: "Muss immer dran denken, dass ich seinen Plan durcheinander gebracht habe." Ella, Markus´ Freundin, hat Größeres im Sinn: "Obwohl das alles so furchtbar ist, aber irgendwie ist das auch irre romantisch." Markus schließlich: "Ich würde alles für dich tun."

Dieser Auftakt ist das Muster dafür, wie Valeska Grisebach erzählt. Der Unfall ist zuerst ein mediales Phänomen, der Kitt, der die dörfliche Gemeinschaft im Darüber-Sprechen zusammenhält. Nach der Katastrophe kommt die Katharsis, die Selbstbestimmung. Was hättest du an meiner Stelle getan? Was hätte ich an deren Stelle getan? Der Unfall dient dazu, Festgelegtes zu überprüfen, Selbstverständliches zu hinterfragen, Positionen zu beziehen. Markus schließlich: "Ich würde alles für dich tun." Das klingt leicht dahingesagt, wenn jemand gerade alles getan hat: aus Liebe in den Tod.

Geschickt streut Valeska Grisebach einen Verdacht, der die unschuldige Beziehung zwischen Markus und Ella langsam befällt, ohne dass man wüsste, woran es ihr genau mangelt. Anfangs ist es nur der kurze Moment der Irritation, als Markus eine Geschichte erzählt über Ella als Kind, die ihr peinlich ist. Später, nach Markus´ Seitensprung mit der Kellnerin Rose bei einem Feuerwehrseminar, übermannt Ella während einer Chorprobe die tiefe Traurigkeit, die die Entfremdung von einem nah geglaubten Menschen bedeutet.

Dass Sehnsucht ein so genauer, souveräner und intensiver Film geworden ist, hat zwei Gründe. Zum einen hat Valeska Grisebach mit Menschen gearbeitet, die ihr Geld nicht als Schauspieler verdienen. Andreas Müller (Markus) ist Kfz-Mechaniker, Ilka Welz (Ella) arbeitet als Krankenschwester und Anett Dornbusch (Rose) serviert in der Gastwirtschaft ihrer Eltern. Dem Film gelingt damit zwischen Dokumentation und Fiktion ein dritter Weg bei der Wirklichkeitsabbildung. Grisebachs Laien spielen Figuren und sind doch die meiste Zeit sie selbst, weil ihnen das Handwerk der professionellen Schauspieler - und alles Ornamentale daran - fehlt. Das ist ein Balanceakt, der gut geht, auch wenn man in manchen Momenten die Begrenztheit von Andreas Müllers Ausdrucksmöglichkeiten erahnen kann. In der vielleicht berührendsten Szene des Filmes tanzt Markus beim Feuerwehrtreffen allein zu Robbie Williams "Feel". Markus´ Tanz ist ungelenk und tief versunken, kurz: Er tanzt, wie wir alle tanzen, wenn unser emotionales Bedürfnis danach größer ist als die Scheu, dabei ungeschickt auszusehen.

Zum anderen hat Valeska Grisebach mit einem Respekt gearbeitet, der solche Szenen vor Lächerlichkeit schützt. Der Blick der Kamera (Bernhard Keller) ist frei von Verächtlichmachung und Idealisierung, weder begegnen uns die Dorfbewohner als ausgemachte Trottel noch als edle Wilde. Der ritualisierte Begrüßungsgeschenkeaustausch zwischen den Feuerwehren hat ebenso wie das Seminar über Belüftungstechnik "und dergleichen" eine feine Komik, während die Schiebermützen und Trainingsanzüge, die bei Familienfesten das Bild dominieren, keinen Anlass zur Bloßstellung bieten. Diese Beobachtungsgabe aus interessierter Distanz erinnert an den Dokumentarfilm, etwa an die Profils paysans von Raymond Depardon, in denen das Geordnete, das Zyklische am ländlichen Leben hervortritt.

Die dörfliche Erzählung ist der Zyklus. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Leben und Sterben. Deshalb ist der Unfall hier fast ein Naturereignis. Am Ende von Sehnsucht wird es noch einen Unfall geben. Und einen wunderbaren Epilog, in dem alles Gesehene in einer Fabel auf dem Kinderspielplatz verankert wird.

Das einzige, was an diesem Film nicht passt, denkt man lange Zeit, ist der Titel. Sehnsucht, das klingt so ungefähr und groß für diesen kleinen Film. Bis man begreift, dass Valeska Grisebach einen großen, einen universellen Film gedreht hat, in dem es ums Ganze geht: die Liebe.


Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden