V-Mann Temme in der „Mausefalle“

NSU Eine Rekonstruktion des neunten Česká-Mordes durch Londoner Experten beweist, dass künstlerische Mittel sehr wohl zur politischen Intervention taugen
Ausgabe 35/2017

Als Erfolg hat sich die Documenta in Kassel und Athen bislang nicht erwiesen: zu viel Politik, zu wenig Kunst, so der Vorwurf. Jüngster Beleg: Der Streit über die Performance Auschwitz on the Beach, die auf die Verhältnisse in libyschen Flüchtlingslagern aufmerksam machen wollte.

Dabei gibt es Höhepunkte. Am Freitag ist abseits großer Öffentlichkeit und bedeutender Feuilletons ein Scoop gelungen. Ein Kunstwerk, ein eminent politisches dazu, hat den Wechsel vom Museum in die Politik geschafft. Es ist da angekommen, wo es intervenieren wollte.

Am 25. August tagte in Wiesbaden der hessische NSU-Untersuchungsausschuss. Geladen war, zum dritten Mal, der Verfassungsschützer Andreas Temme, die fragwürdigste Figur in der an Fragwürdigkeiten nicht armen Geschichte der rechtsterroristischen NSU-Verbrechen. Temme, bei dem sich neben anderen Nazi-Memorabilien handschriftliche Abschriften von Mein Kampf fanden, war am 6. April 2006 zu der Zeit in einem Internetcafé in Kassel, als dessen Besitzer Halit Yozgat das neunte Opfer der Česká-Mordserie wurde.

Doch Temme bestreitet seine Anwesenheit. Dass er sich nach dem Mord nicht als Zeuge gemeldet hat, erklärte er auch damit, nicht sicher gewesen zu sein, ob er am Tag des Mordes oder dem davor im Café gewesen wäre – den Chat, den er dort führte, löschte er nach ein paar Tagen aber, ohne auf Datum und Uhrzeit zu schauen.

So sind die Erklärungen eines der – so seine Vorgesetzten – „besten“ Verfassungsschutzbeamten Hessens. Wenn Temme überhaupt etwas sagt und nicht auf die scheinbar roboterhafte Leere im Kopf verweist, die bei gewöhnlichen Menschen Erinnerung heißt.

Deshalb setzte die SPD-Fraktion auf Unterstützung durch Kunst und zeigte Ausschnitte aus der Videoarbeit 77sqm_9:26min von Forensic Architecture, die gerade auf der Documenta zu sehen ist. Eine Rekonstruktion der letzten halbe Stunde im Leben Halit Yozgats, für die Abläufe durch frei verfügbares Wissen grafisch visualisiert und räumlich nachgestellt wurden.

Orientiert wurde sich auch an einem geleakten Polizeivideo, in dem Temme seine Version darstellt. Was den noch immer in Landesdiensten stehenden Temme merklich angefasst nach „Urheberrechten“ für ihn als „Hauptdarsteller“ fragen ließ. Die Rekonstruktion macht erdrückend deutlich, dass Temme die Schüsse hätte hören, das Abfeuern der Tatwaffe riechen und beim Bezahlen den hinter der Kasse im Sterben liegenden Yozgat hätte sehen müssen. Anders als im Hamlet, wo die Mausefalle, ein Stück im Stück, den Mord am Vater aufzuklären hilft, zeitigte der Einsatz der Arbeit von Forensic Architecture keine unmittelbare Wirkung. Es war aber zu spüren, was Kunst vermag, wenn das Video Temme jene Perspektive plausibilisert, die er bestreitet: die auf den toten Halit Yozgat.

Was am Freitag auch unterging: Am Ende seiner Befragung gab der auch geladene Polizist Joachim Börger, der im Fall Yozgat ermittelte, zu verstehen, dass die Staatsanwaltschaft die von Temme geführten V-Leute wohl mit dem Ziel befragen wollte, ein Alibi für den eigenen Mann zu kriegen und ihn so aus dem „Beschuldigtenbereich raus“ zu bekommen.

Das wurde verhindert – durch einen Sperrvermerk des damaligen Innenministers und heutigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU). Vielleicht könnten Künstler bald einmal das Behördenversagen selbst noch beim Vertuschen anschaulich machen.

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Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

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