Vor dem Schuss

Rückschau Sehenswerter denn je: In „Duvarlar“ erkundete Can Candan im Jahr 1991 die Lage der Türken in Deutschland
Ausgabe 44/2017
Alle Diskurse, die politisch aktuell noch von Belang sind, kommen in Candans filmischen Essay vor
Alle Diskurse, die politisch aktuell noch von Belang sind, kommen in Candans filmischen Essay vor

Foto: duvarlarmauernwalls.blogspot.de

Im Herbst 1989 war der Filmemacher Can Candan Student in den USA. Er sah im Fernsehen die Bilder vom Mauerfall und spürte die Freude über das Ende des Kalten Kriegs. Wovon keine Rede war: was der historische Einschnitt für die damals zwei Millionen Menschen der türkischen Community in Deutschland bedeutete.

Also flog Candan 1991 nach Berlin, um einen Film über die Lage seiner Landsleute zu drehen, mit denen ihn in den USA die Sehnsucht nach einem Zugehörigkeitsgefühl verband. Duvarlar – Mauern ist nur 84 Minuten lang, aber ein einzigartiges Dokument. Finanziert wurde das Projekt, wie im Abspann zu lesen ist, mit Geld von amerikanischen Universitäten. Dabei handelt der Film von eminent deutschen Fragen, weshalb seine Erzählung durch die Produktionsumstände gespiegelt wird: Für etwas, das die deutsche Gesellschaft ignoriert, gibt es auch kein Geld, keine Sendeplätze, keine Öffentlichkeit.

Dabei liefert Duvarlar gerade aus heutiger Sicht reiches Material: Alles ist schon da. Alle Diskurse, die politisch aktuell noch von Belang sind, kommen in Candans Essay vor. Das taube Gefühl eines Lebens wie im Transitraum, bei dem die Türkischstämmigen in Deutschland nicht dazugehören und in der Türkei als Deutschländer fremd sind. Die Gentrifizierung wirft ihre Schatten voraus, wenn erzählt wird, wie sich mit 1989/90 die Stimmung in Kreuzberg ändert. Man kann dann erahnen, wie die unattraktive Gegend im toten Winkel der Weltgeschichte plötzlich von Interesse wird für Leute mit Geld, die ins Zentrum der neuen Hauptstadt streben.

Und selbst die Wiederkehr der Religion als striktes Lebensmodell in prekären Zeiten registriert Duvarlar. Auch ein Moscheebesuch gehört zu dem Panoptikum, für das Candan eben nicht nur elaborierte Sprecherinnen wie Sevim Çelebi befragt, die als erste Politikerin mit türkischem Hintergrund einem deutschen Parlament angehörte (dem Berliner Abgeordnetenhaus in den Jahren 1987 bis 1989).

In der essayistischen Recherche kommen auch Leute zu Wort, die der Autor auf der Straße anspricht: die durch die ostdeutsche Billigkonkurrenz arbeitslos gewordenen Menschen, die nun Souvenirs am Brandenburger Tor verkaufen und von denen einer sagt, wie enttäuscht er sei, dass sich ein kommunistisches Land für eine Banane, Apfelsine oder 100 Euro Begrüßungsgeld hat kaufen lassen. Ein Straßenkehrer, der den Schmutz der, wie er betont, deutschen Menschen wegmacht. Aus der Perspektive von Duvarlar erscheint es zwingend, dass 1961 nicht nur das Jahr des Mauerbaus war, sondern auch das des Anwerbeabkommens mit der Türkei.

In diesen porösen Momenten wirkt Duvarlar wie der Komplementärfilm zu Petra Tschörtners großem Zwischenzeit-Dokumentarfilm Berlin – Prenzlauer Berg (1990) oder Gerd Kroskes Kehraus-Trilogie (1989 – 2006), weil das sichtbar wird, was dort die Unsicherheit ostdeutschen Lebens in der neuen Zeit überdeckt. Es ist offensichtlich, dass Candans Film, der mit Standfotos und festen Einstellungen arbeitet und in dem es keine ausgedehnten Fahrten durchs turbulente Berlin gibt, wenig Bewegungsfreiheit hat, keinen Raum, der filmisch durchmessen werden könnte.

Im letzten Drittel kommt Duvarlar bei rechtsradikalen Aufwallungen der frühen 90 Jahre an, an denen die Gesprächspartner mehr noch als die konkrete Gewalt die Tatsache zu bestürzen scheint, dass die Neonazis mit der Sympathie der Bevölkerung rechnen können. Die Lehrerin Sanem Kleff sagt: „Dieser Rassismus hat sich parteilich noch nicht organisiert, obwohl es immer wieder versucht wurde.“

Mit dem Wissen von heute schaut man anders auf diesen Film: Candan hat Duvarlar im Jahr 2000 fertiggestellt. Am 11. September dieses Jahres wurde Enver Şimşek vom NSU ermordet. Ein Mensch mit einem Leben, wie der Film es erzählt hat.

Info

Duvarlar – Mauern Can Candan USA 2000, 84 Minuten, für 4 – 8 Euro auf onlinefilm.org

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Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

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