Weniger ist nicht Moor

Bühne Das Schiller-Jahr hat begonnen - Hasko Weber, bald Intendant in Stuttgart, zeigt am Berliner Emsemble seine Schlussstrichfassung der "Räuber"

Dramaturgie kommt im Alltag, der routiniert-planlosen Abfolge des Lebens, nur als Koinzidenz vor. Was nicht ohne Reiz sein muss, wie der Umstand zeigt, dass einige Tage vor der Premiere von Schillers Die Räuber in der Regie von Hasko Weber vermeldet wurde, dass Hasko Weber ab der nächsten Spielzeit dem nach Hamburg wechselnden Friedrich Schirmer als Intendant des Stuttgarter Staatsschauspiels nachfolgt. Da addiert sich eine hübsche Summer an Aufmerksamkeit zusammen: Die erste Inszenierung in der Hauptstadt des 1963 in Dresden geborenen Weber kann sogleich vor dem Hintergrund seiner kommenden Intendanz betrachtet werden, wenn auch das Regieführenkönnen noch nichts über das Theaterleitenkönnen aussagt.

Die Dramaturgie des Alltags wird zum bleischweren Ballast, wo sie routiniert-planend dem Lauf der Zeit Höhepunkte an Aufmerksamkeit entlocken will. Das Gedenktagwesen ist so ein Fall, sein aktuelles Beispiel Friedrich Schiller, der im nächsten Jahr 200 Jahre tot sein wird. Wenn die Jahreszahl des Jubiläums sich auf runde Dreistelligkeit beläuft, agiert die mediale Gegenwart getreu dem unbescheidenen Motto: Mehr ist mehr. Dann ist ein Erinnerungsbeitrag am Todestag (9. Mai) nicht genug, und man reserviert dem prominenten Toten das ganze Jahr 2005 zum Angedenken. Das macht die Sache nicht besser, sondern nur unübersichtlicher, und - das ist das Bleischwere - so fängt das Schiller-Jahr an, bevor es begonnen hat, weil keiner letzter und jeder erster sein will. Hasko Weber hat zwar erklärt, dass man Schillers Räuber immer inszenieren könne, aber das hält ein durch Spielplanvorschauen und Buchveröffentlichungen bereits auf Schiller gestimmtes Publikum nicht davon ab, in Webers Räuber-Inszenierung am Berliner Ensemble den Auftakt der Todesjahrfeierlichkeiten zu sehen, da wir uns rein gedenktagsrechnerisch noch im Kant-Jahr befinden.

Das Stück Die Räuber ist ein Auftakt nach Maß. Es steht am Beginn von Schillers dramatischem Schaffen und behauptet diesen Platz mit aller überbordenden Frühreife, mit der ein 21-jähriger Weltverbesserer und Menschenerzieher um sich schlagen kann. Ein Stück, das sich vornimmt, "Religion, Moral und bürgerliche Gesetze an ihren Feinden zu rächen", und den Umweg über die böhmischen Wälder der Mordbrennerei in Kauf nimmt, um der Freiheit des Menschen als eines sittsam-würdigen Wesens zum Durchbruch zu verhelfen. Frank Castorf hatte 1992 mit Die Räuber seine Intendanz an der Berliner Volksbühne eröffnet, Manfred Karges und Matthias Langhoffs Bearbeitung 1971 am selben Haus die bewegenden Besson-Jahre eingeleitet, Peter Zadeks Inszenierung 1966 in Bremen die Erneuerung des bundesdeutschen Theaters formuliert.

Von diesen Aufbrüchen und Anfängen kündet das Programmheft zu Hasko Webers jetziger BE-Premiere, das durch Fotos noch einige andere Räuber-Inszenierungen im Nachkriegsdeutschland dokumentiert: Piscator, Lietzau, Peymann. Dazu Sentenzen von Karl Mickel bis Rainald Goetz, da bekommt man beim Blättern weiche Knie: so viele große Namen. Die Ansammlung von Historie führt unvermeidlich in die Buchhaltung von 50 - wenn nicht 200 - Jahren Theatergeschichte: Hier soll Bilanz gezogen werden, sagt das Programmheft, und hat schon mal am Text gekürzt. Seitenweise ist Schillers Werk mit dem Schwarzstift durchstrichen, so dass man selbst als Freund des Regietheaters und Befürworter des Texts als Material ein wenig Mitleid mit dem Autor haben kann. Ja, wozu hat er sich denn dann die Mühe gemacht?

Hasko Weber zieht die Schlussstrichfassung unter die Aufführungsgeschichte der Räuber, und um es vorweg zunehmen, er scheitert damit kläglich. Die notwendig gewordenen Personaleinsparungen betreffen vor allem die Räuberbande, in der nur der treu-brutale Schweizer (Michael Rothmann), der unverstellt-idealistische Roller (Henning Hartmann) und der jung-verbitterte Konsinsky (Ronny Tomiska) ihre Stellen behalten haben. Den Spiegelberg, der im Gesetzesübertritt nicht den Weg in die Freiheit sucht, sondern seinen privaten Ruhm, gibt Alexander Doering in der Art eines mittelmäßigen Musikproduzenten, der mit Glitzer-Konfetti um sich wirft und Glamour am Revers trägt, aber rapide an Schärfe verliert, weil er in dem Text-Torso fortwährend auf Positionen aushelfen muss, für die er nicht ausgebildet ist. So kann man eine Figur auch demontieren.

Karl Moor, der als umtriebiger Student in Leipzig die als Brief zugestellte brüderliche Intrige Franzens als Initial zum Weg in die Gesetzlosigkeit nimmt, ist in der Darstellung von Norbert Stöß von Beginn an ein melancholischer Bohemien. Das Aufbegehren ist zu Ende, noch ehe es begonnen hat, wiewohl solche Müdigkeit zu unserer Zeit eines hitzig gewordenen Streits um die Weltordnung so recht nicht passen will. Webers Inszenierung verfolgt diese Lesart aber sowieso nicht, weil seinem Karl Moor durch die Zerhackstückung des Dramas die Möglichkeit genommen wird, sich an der Entwicklung seiner Figur zu reiben.

Was vom Drama dann noch übrig bleibt, mag man sich besorgt fragen, und das einzige ist tatsächlich der Vater-Sohn-Konflikt zwischen dem alten Moor und Sohne Franz. Bezeichnerweise erntet Dirk Ossig für die Darstellung des so verschlagenen wie geschlagenen Zweitgeborenen den größten Applaus. Er verschafft seiner Figur eine Geschichte, die vom kühl-kalkulierten Machtplan über den Wahnsinn schließlich in den Tod führt, weil der Plan nicht aufgeht. Ihre stärksten Szene hat die Inszenierung folglich zu Beginn, wenn Franz den kranken Vater über das Leben des geliebten Karl täuscht. Die Bühne ist leer und nach hinten nur durch eine mit rotem Stoff bespannte Wand begrenzt, auf der in großen, weißen Buchstaben der Name Moor zu lesen ist. Leichenblass und stocksteif tritt Rainer Philippi als Vater an den Katheder (später wird er Blut spucken, noch später - das ist ein schöner Einfall -, wenn er als Untoter aus dem Sarg zurückkehrt, wird ihm das Blut um den Mund geschmiert sein wie dem Vampir im Horrorfilms). Franz hingegen in seiner bequemen Trainingshose, die er zum Anzug trägt, biegt und windet und tastet sich heran an den alten Herrn, um ihn zur Verdammung von Karl zu bewegen. Das ist ein feines Duell, das sich allein durch die Elastizität der Körper erzählt - der haltungsstarre Alte gegen den rückgratlosen Nachkömmling -, und das aus dem Gegensatz geschickt Spannung ableitet: Der Mächtige ist schwach, und der Starke machtlos. Der Zweikampf wird zum Lavieren. Körperdiplomatie.

Die Auftritte von Franz und Vater Moor sind die wenigen intensiven Momente des Abends. Das meiste spult sich so durch, denn Hasko Webers Strichfassung ist eine Skip-Fassung. Schiller liegt im CD-Player, wo man mit einem Tastendruck zum nächsten Stück gleiten kann, nicht länger behindert vom zeitraubend-enervierenden Spulen am Kassettendeck, sondern untermalt von einem kurzen "Tzzitt". Bei Weber macht es häufig "Tzzitt", dann dreht sich die Bühne mit der Wand, an der vorbei man auf die große Leere des backsteinernen BE-Bühnenhauses blickt. Man denkt an Michael Thalheimer, den bekanntesten Entkerner der deutschen Gegenwartsbühne, der die Aussparungen im Text durch einen hohen Gestaltungswillen wieder reinholt. Hasko Webers Inszenierung dagegen hat in den Räubern ordentlich ausgemistet, aber vergessen, sich darin neu einzurichten.


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