Wie es wirklich gewesen ist

Korrekturarbeit Wolfgang Gerschs lobenswert leichthändiger Gang durch DEFA- und DDR-Geschichte

Filme über die DDR, wie jüngst Florian Henckel von Donnersmarcks Stasi-Melodram Das Leben der Anderen, sind heute nicht zu haben ohne die Frage, ob das, was sie vorstellen, tatsächlich so gewesen ist. Nicht selten handelt es sich bei den daraus resultierenden Diskussionen um Spiegelfechtereien, bei denen Spekulation den Standpunkt bestimmt. Von beiden Seiten, wenn man diese Linie überhaupt ziehen will, der gemäß der westdeutsche Blick einer Beschränktheit durch eine andere Sozialisation unterworfen wäre, während sein ostdeutscher Widerpart an einer zwangsläufigen Trübung der Erinnerung leiden würde. Filme über die DDR sind heute zuerst historische Filme, und wenn man aus ihnen ableiten kann, wie etwas gewesen ist, dann doch vor allem: wie es um die Zeit (und ihrer Haltung zur DDR) steht, in der sie entstanden sind.

Wer im Kino erfahren will, wie es tatsächlich gewesen ist, muss weiterhin Defa-Filme schauen, von Wolfgang Staudtes Nachkriegsfilm Die Mörder sind unter uns (1946) bis zu Peter Kahanes unfreiwilligem Schlusskapitel Die Architekten (1990). Der interessierte Zeitgenosse kann nun aber auch zu einem Buch greifen, das man nicht hoch genug loben möchte, wiewohl es ob seiner schlichten Aufmachung ein wenig unscheinbar daherkommt. Szenen eines Landes - Die DDR und ihre Filme heißt die Filmgeschichte, die Wolfgang Gersch vorgelegt hat. 1935 geboren, hat der Autor in der DDR an der Babelsberger Filmhochschule Dramaturgie studiert und war über lange Zeit als Theaterkritiker in Erscheinung getreten. In der Regierung Lothar de Maizière formulierte Gersch als Abteilungsleiter Film die Idee einer Defa-Stiftung, die erst Jahre später Wirklichkeit wurde, und blieb bis 2001 Referent für Film unter wechselnden Dienstherren im Kulturressort der Bundesregierung.

Sein Buch kümmert sich wenig um die ästhetischen Qualitäten des Defa-Erbes, noch geht es um subjektive Vorlieben oder einen ordnenden Kanon. Gersch lässt das Kino einer Vergangenheit Revue passieren, um zu zeigen, was dieses Kino über die Vergangenheit erzählt oder auch verschwiegen hat. Das Bewundernswerte dabei ist die Nüchternheit seines Blicks, die Koalitionen mit billig zu habenden Wertungen scheut und faulen Ressentiments, welcher Art auch immer, keinen Raum bietet. Aus dem Tempo, in dem Gerschs - auch stilistisch - unprätentiöse Reflexion 45 Jahre Filmschaffen durchpflügt, spricht eine sympathische Kurzangebundenheit, die fern des Eindrucks sentimentaler oder verhärmter Rechtfertigung eine unaufgeregte Pflichtschuldigkeit offenbart: Einer musste sich dieses Themas ja mal annehmen.

Bezeichnenderweise beginnt Gersch seine Betrachtungen mit dem zweiten, "vergessenen" DEFA-Film Freies Land (1946). In einem verwaisten Schloss versammeln sich einfache Leute, die den geflohenen Besitzer als Signal ihrer neuen Freiheit begreifen, worin er das "Urbild des DEFA-Films" erkennt: den sozialen Umsturz, die neuen Verhältnisse, "und was immer daraus folgt, das Loblied der kleinen Leute wird dazugehören." Unter solcher Prämisse scheint die Frage nach einer Kritik an Bestehendem von vornherein obsolet, und Freies Land liefert davon ein plastisches Beispiel in der Begegnung von zwei Bäuerinnen und einem sowjetischen Soldaten, der, statt seine Macht sexuell auszunutzen, flugs zwei Pferde zur Landarbeit abstellt.

In Szenen eines Landes erscheinen die Pendelbewegungen der Macht, jenes verdrießliche Hin und Her zwischen Entspannung und Verbot, in einem phänomenlogischen Gewand. Dass Filme wie Berliner Romanze (1956) oder Berlin - Ecke Schönhauser (1957) den Unmut der Partei auf sich zogen, erscheint Gersch wie "ein Stück aus dem Tollhaus". Denn die "Berlin-Filme" ließen keinen Zweifel an den Hoffnungen, die sie mit der DDR verbanden, und wählten überdies, beeinflusst vom italienischen Neorealismus, eine Filmsprache, in der mehr Zuschauerherzen ihre Wirklichkeitsauffassung wieder finden konnten als in staatstragenden Propagandafilmen wie Ernst Thälmann - Sohn seiner Klasse (1954). Die Utopie vom gerechteren Staat landet auf "falschen Wegen", wenn sie am Beginn des Kalten Krieges als Propaganda auf die Pauke haut. In Unser täglich Brot (1949) von Slatan Dudow "begegnen wir erstmals dem sozialistischen Programm", notiert Gersch lakonisch. Das bessere Leben wird zur Kleinbürgerhölle pervertiert: "Die von Ulbricht später deklarierte ›sozialistische Menschengemeinschaft‹, die es nie gegeben hat, ist im Film schon zu sehen. ... Das Schicksal, das Geschichte spielt, macht denen, die nichts haben, ein Angebot zur Zufriedenheit." Dieses anzunehmen, war in den achtziger Jahren auch das Einzige, was vom Traum eines selbst bestimmten Lebens, einer Verwirklichung des Individuums übrig blieb. Angesichts von Lothar Warnekes Protokoll einer stillen Verzweiflung, Die Beunruhigung (1982), erinnert Gersch an den schal gewordenen Aufbruchsgeist der "Berlin-Filme": "In seiner menschenfreundlichen Zuwendung hat ›Die Beunruhigung‹ Bestand, aber als Auseinandersetzung mit den Verhältnissen im Land war er schon damals überholt. Seine Hoffnungen, die DDR könnte neben der westlichen Konkurrenz bestehen, worauf ein Vierteljahrhundert zuvor der Film Berliner Romanze naiv gesetzt hatte, gingen an den inzwischen erfahrenen Realitäten vorbei."

So addiert sich die Geschichte dessen, was von der DDR-Wirklichkeit im Kino zu sehen war, aus einer nahezu chronologischen Galerie von über 60 Filmen. Das macht Szenen eines Landes mitunter zwar kleinteilig, ermöglicht aber jene Genauigkeit bei der Revision von Film und Wirklichkeit, die das Buch auszeichnet. Gersch behandelt den verbotenen Jahrgang von 1965/66 oder Meilensteine wie Die Legende von Paul und Paula prinzipiell im gleichen Tonfall und auf gleichem Raum wie heute vergessene Filmen wie Der Auftrag Höglers (1950) oder Das Fahrrad (1982), weil es ihm nicht um das Crescendo zwischen Mach- und Meisterwerk geht. "Vergessene Wahrheiten" wie die Kritik an der westdeutschen Restauration etwa in Rat der Götter (1950), die trotz ihrer propagandistischen Ausschlachtung einen wahren Kern hatte, finden ebenso Eingang in Gerschs Filmgeschichte wie der Einspruch gegen das Vorurteil, die DDR habe den Antisemitismus der Nazis verschwiegen, am Beispiel von Filmen Konrad Wolfs.

So liegt der erste Reiz des Buches in diesen kleinen Bemerkungen, mit denen der Autor einem Korrektor gleich die Filmgeschichte versieht. "Der Erfolg ... ist dem streckenweise behäbigen Film heute nicht mehr anzusehen", heißt es etwa über Rainer Simons Till Eulenspiegel (1975). Über Der Frühling braucht Zeit (1965) von Günther Stahnke wird geäußert: "Den heutigen Betrachter wird die hölzerne Handlung zwar nicht unbedingt amüsieren, trotzdem aber einige Hoffnungen auf gesellschaftliche Veränderungen erkennen lassen." Und nachdem Gersch Slatan Dudows Frauenschicksale von 1952 durchbuchstabiert hat, atmet er am Ende auf: "Immerhin wollte dieser Film, daß die Frauen schön aussehen."

Wolfgang Gersch: Szenen eines Landes. Die DDR und ihre Filme. Aufbau, Berlin 2006, 24 Abb., 226 S., 22,90 EUR


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