Wie sieht's hier eigentlich aus

Alltag 6 qm Deutschland - Über Wohnen, oder was man dafür hält, in Asylbewerberheimen. Von Dorothee von Bodelschwingh (Bild) und Matthias Dell (Text)

Die Buchstaben des Gesetzes sind Landmarken, durch die sich eine Gesellschaft den Boden bereitet, auf dem sie existiert. Abhängig von den politischen Interessen dieser Gesellschaft entstehen so Gebiete, die großräumig umrissen werden, und solche, die millimetergenau definiert sind. Als der Parlamentarische Rat in einer ausführlichen Debatte über die Frage diskutierte, wie der Artikel 16 des Grundgesetzes, das Recht auf Asyl für politisch Verfolgte, verfasst sein sollte, entschied man sich für eine großzügige Lösung. Der SPD-Politiker Carlo Schmid begründete das damals mit den Worten: "Die Asylrechtsgewährung ist immer eine Frage der Generosität, und wenn man generös sein will, muss man riskieren, sich gegebenenfalls in der Person geirrt zu haben. Das ist die andere Seite davon, und darin liegt vielleicht auch die Würde eines solchen Aktes."

Das ist bald sechzig Jahre her. Die Politik der letzten Jahrzehnte hat das Gebiet des Artikels 16 mehrfach beackert, Unterparagraphen wurden geschaffen, Absätze eingefügt. Übrig geblieben ist ein strenges Raster, das den einst weitläufigen Raum so unwegsam hat werden lassen, dass Worte wie Generosität und Würde dort nicht mehr gedeihen.

Der Platz, an dem der geduldete Asylsuchende vor der Freiheit unseres Landes verwahrt wird, ist das Heim. Als "geeignet" im Sinne des Gesetzes gelten, wie im Vorwort zu dem Band vermerkt, in dem der Fotograf Martin Rosswog in den frühen neunziger Jahren Asylbilder versammelte, "ehemalige Militäranlagen, Schulen, Turnhallen, leerstehende Fabriken oder Gaststätten, Leichtbauhäuser und Container". Vor dem Hintergrund der stadtplanerischen Debatten der letzten Jahre könnte man von einer umgekehrten Gentrifizierung sprechen: Die bauliche Brache wird durch eine veränderte Nutzung nicht wiedergewonnen für den urbanen und wirtschaftlichen Zusammenhang, sondern aus ihm herausgehalten. Das Abgewertete wird weiter abgewertet.

In dem Dokumentarfilm Grenze besuchen vier vormalige DDR-Soldaten die Kaserne, in der sie einst untergebracht waren und in der nun Flüchtlinge wohnen. Es ist ein skurriles Bild aus deutscher Gegenwart: Vier gewesene Soldaten treffen mit allem gefühlten Ernst ihres privatistischen Erinnerungsauftrages bei der Suche nach einer Vergangenheit auf Menschen, die sie nichts angehen und die ihnen fremd bleiben, gerade wegen der provisorischen Versuche der Heimbewohner, sich zwischen den Doppelstockbetten der einstigen Kaserne so etwas wie ein Leben einzurichten. Das einzige, was einem der vier Soldaten bei der probierten Rekonstruktion der damaligen Verhältnisse für die Jetztzeit einfällt, ist die im mauligen Ton des Hausmeisters geäußerte Bemerkung "So sah es hier früher aber nicht aus."

Wie es aussieht in den Flüchtlingsheimen, kann man auf den umstehenden Bildern sehen, die in "Gemeinschaftsunterkünften" in Berlin und Brandenburg entstanden sind. Die Serialität der Motive offenbart die Tristesse eines hermetisch geregelten Daseins. Geregelt zum einen durch die Buchstaben von Hausordnungen und Paragraphen der Verhaltenslehre, geregelt zum anderen durch die Anordnung von Mobiliar und Organisation der Räumlichkeiten, deren stille Repression zumeist schon mit der Lage des Heims an den Rändern des gesellschaftlichen Lebens beginnt.

Küche heißt hier die Phalanx aus drei, vier, fünf Herden in kargem Raum, die in ihrer funktionalen Reihung vielmehr geleitet ist von der Erfüllung verbriefter "Mindestnormen" als von der Vorstellung, dass Menschen damit umgehen sollten. Das Bild wiederholt sich in Waschkellern und Duschräumen; in letzteren ist die sterile Dienstbarkeit des gemeinschaftlich Genutzten mancherorts aufgebrochen durch zumindest eine Art Duschvorhang, der den Wunsch nach Intimität dürftig bemäntelt. In den Fluren regiert die Leere des Brandschutzes.

6 Quadratmeter Wohnfläche gesteht der gesetzliche Standard dem Flüchtling in Brandenburg zu, dazu 1 eigenes Bett, 1 Schrank, 1 Tisch mit Stuhl und 1 Aufbewahrungsmöglichkeit für Lebensmittel. Mobiliar ist das, was übrig ist - von der einstigen Bestimmung der jeweiligen Anlage, wie die Armeebetten, oder von den wechselnden Moden der Inneneinrichtung, wie die lila-gescheckten Sofaungetüme des ersten Nachwende-Möbelhausbesuches. Das, was für die Flüchtlinge die Umgebung ihrer Gegenwart bildet, liegt für das Auge des Betrachters in der ästhetischen Ferne der Vergangenheit. Asylbewerber sind so in einem doppelten Sinne unsichtbar für das Heute unserer Gesellschaft: Sie werden an Orten untergebracht, die aus Raum und Zeit gefallen sind.

"Im Asyl gibt es keine Gegenwart und keine Zukunft", sagt ein junger Mann in dem Kurzfilm Le Heim, der in dem dauerhaften Provisorium Waldsieversdorf entstanden ist und auf dem politischen Berliner Filmfestival Globale gezeigt wurde. "Duldung" benennt den immer wieder verlängerten Moment des Wartens auf eine Entscheidung, die Starre eines Lebens, in dem es nichts zu tun gibt und von dem keiner weiß, wohin es nach Ablauf der nächsten Frist verschoben wird. Eine Ungewissheit, die das Verlangen nach Ankommen, Niederlassen, um nicht zu sagen: Heimat torpediert. Das Gefühl des Eigenen stiften zumeist bloß ein paar Bilder - die unablässig zeittötenden des Fernsehens und die Bilder an der Wand. Fotos, Poster, Werbemotive, die in Kontrast zu dem sie umgebenden Leben stehen, weil sie immer etwas vorstellen: ein Rollenmodell wie den Rapper, den bunten Schein der Warenwelt, Momente des Glücks und des Stolzes auf den eigenen Aufnahmen. An den wie auch immer gearteten Posen, die auf den Bildern für etwas stehen, hängt der träumende Blick eines formlosen Lebens.

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