"Wie lange würden Sie widerstehen können?"

Interview Theresa Hannig im Gespräch zu ihrem neuen Roman "Die Unvollkommenen"

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Ihre Freitag-Redaktion

Wie individuell ist das?
Wie individuell ist das?

Foto: imago images/fStop Images

Die Autorin Theresa Hannig veröffentlichte 2017 ihren Debütroman „Die Optimierer“ (Rezension), im Juni 2019 erschien die Fortsetzung „Die Unvollkommenen“. Beide Romane verhandeln eine Frage: Wie können Menschen ihre Individualität bewahren, wenn sie erst durch massives Social Scoring eingestuft, im Sinne einer „Optimalwohlökonomie“ fremdbestimmt und schließlich mit Gehirnchips digital „integriert“ werden? Die Antwort: Es ist bestenfalls kompliziert, und schlimmstenfalls landet man in idyllisch am Ostseestrand gelegenen und mit jedem materiellen Luxus ausgestatteten „Internaten“ — ein goldenes Dystopia.

Erstmal eine eher persönliche Frage, da ich Kühlungsborn, die Villa Baltic, den Nienhäger Gespensterwald usw. recht gut kenne: Wieso diese Umgebung für das „Internat“? Haben Sie dazu einen konkreten Bezug?

Ich habe vor einigen Jahren eine Wohnmobiltour durch Ostdeutschland gemacht und zu dieser Gelegenheit auch Kühlungsborn besucht. Es kam mir damals wie eine sehr saubere, sehr durchstrukturierte Kunstwelt vor, in der man die ideale Version eines Sommerurlaubs verbringen konnte. Gleichzeitig erinnerte mich dieser „ideale“ Urlaubsort an den fiktiven Strand „Shell Beach“ aus dem Science-Fiction Film „Dark City“. Dort ist es der Sehnsuchtsort aller Menschen, die in einer stets dunklen Stadt gefangen sind. Schon in meinem Roman „Die Optimierer“ habe ich mich damit auseinandergesetzt, wie gut es für die Menschen ist, wenn alles immer weiter verbessert und (vermeintlich) optimiert wird. Irgendwann gibt es einen Punkt an dem die Optimierung zu perfekt, zu schön, zu sauber und damit unmenschlich wird.

Die Villa Baltic verkörpert mit ihrem morbiden Charme und der alten Grandezza eine Art Luxusgrusel, den ich in meinem „Internat Kühlungsborn“ etablieren wollte. Als ich die Villa gesehen habe, war für mich sofort klar: Da muss das Internat sein! Das Gefühl hat einfach sofort gepasst.

Der Weg durch den Gespensterwald war die notwendige Route, die Lila und Kophler nehmen mussten. Wenn sie eine realistische Strecke mit dem Tretboot fahren, könnten sie dort ankommen. Und welche Autorin würde es sich schon entgehen lassen, ihre Figuren durch einen Gespensterwald zu schicken?

Religion für Menschen, die schon alles haben

Im Roman „Die Optimierer“ war Samson Freitag ein Mensch.In Ihrem neuen Buch wurde Freitags Bewusstsein in einen Roboterkörper übertragen und er wird von der Bevölkerung als Gott verehrt. Das erschien mir ehrlich gesagt etwas eigenartig. Ich hätte erwartet, dass Religion in einer scheinbar so rational durchoptimierten Gesellschaft wie der Bundesrepublik Europa (BEU) gar keine Bedeutung mehr hat. Zudem muss man an Samson eigentlich nicht glauben: Er ist ja eindeutig da, seine Macht „funktioniert“. Rituale, die es in heutigen Religionen gibt, um sich das ersehnte, aber unerreichbare Göttliche näher heran zu holen, sind eigentlich nicht nötig. Und wenn man das nicht religiös sieht, sondern vielleicht als Form der Herstellung von politischer Gemeinschaft, ist es ähnlich: Die Gemeinschaft wird durch Social Scoring, Implantate usw. ohnehin erreicht, die Menschen müssten dafür nicht zu Hunderten zusammenkommen. Warum also trotzdem das freitägliche Propaganda-Event? Welche Lücke füllt es für die Menschen aus?

Seit Samsons Roboterwerdung sind im Roman fünfeinhalb Jahre vergangen. Ich finde das eine recht lange Zeitspanne, wenn man bedenkt, in welchem Tempo die technische Entwicklung fortschreitet. Ein vergleichbares Beispiel zur gesellschaftlichen Durchdringung einer Technologie ist für mich die Verbreitung von WhatsApp. In wenigen Jahren hat sich der Kurznachrichtendienst von einer App unter vielen zum Hauptkommunikationskanal der Weltbevölkerung entwickelt. Niemand zwingt die Leute, dies zu tun und doch sorgt der Netzwerkeffekt dafür, dass es immer notweniger erscheint (manchmal auch ist), sich ebenfalls daran zu beteiligen.

In der BEU des Jahres 2058 hat eine ähnliche Entwicklung stattgefunden. Die Linsen wurden durch Implantate abgelöst – ein kleiner Eingriff, der die Kommunikation extrem vereinfacht. Danach kamen weitere Upgrades hinzu wie die Tympani-Audiochips und auch der Emóchip, die das Leben und die Kontrolle über das eigene Glück revolutionierten. Stellen Sie sich vor, Sie könnten alles tun, alles ausprobieren, was körperliches Wohlbefinden erzeugt (Essen, Alkohol, Drogen, etc.) ohne dafür den Preis (Übergewicht, Kater, Sucht, etc.) zahlen zu müssen.

Wie lange würden Sie widerstehen können?

Hehe, gute Frage. Vor ein paar Tagen gabElon Musk bekannt, dass er Gehirnchips produzierenwill, die langfristig auch neue Fähigkeiten verleihen sollen. Da musste ich natürlich sofort an Ihr Buch denken. Bestimmt wäre ich versucht, sowas zumindest mal auszuprobieren (möglicherweise aber hätte ich dann doch zu viel Angst vor dem Eingriff und noch unbekannten Spätfolgen). Wie sieht’s bei Ihnen aus?

Ich bin sehr um die Integrität meiner Gedanken bemüht. Ich glaube nicht, dass ich es wagen würde, mir in dem zentralen Organ herumpfuschen zu lassen, das meine gesamte Existenz ausmacht.

Nachvollziehbar. Aber nochmal zurück zu Samson Freitags Rolle als spiritueller Führer und leibhaftiger Gott in der BEU Ihres Romans …

In der BEU gibt es nichts mehr, was man nicht erleben, nicht bekommen kann. Aber irgendwann reicht auch der ständige Genuss, die ständige Steigerung des Glücks nicht mehr. Was soll noch kommen, wenn man bereits im Schlaraffenland lebt? Die Antwort für mich ist spirituelle Erlösung.

Samson bietet den Menschen einen Ausweg aus dem „immer mehr“ an. Er verspricht ihnen jetzt schon die ewige Glückseligkeit im Reinen Land. Und es ist kein leeres Versprechen. Die Menschen müssen nicht glauben, nicht hoffen, dass sie irgendwann vielleicht erlöst werden. Samson beweist jeden Tag, dass er die Seelen/Geister der Verstorbenen ins Reine Land einspeist. Die Menschen müssen sich nur an seine Regeln halten und dann ist die Erlösung sicher. Andererseits: Wenn man sich Samson und der Optimierung verschließt, bekommt man gar nichts.

Interessanterweise ist es bei Geschichten über die gängigen monotheistischen Religionen immer andersherum: Die Erlösung steht immer auf der Kippe und man kann sich nie sicher sein, ob man das finale Ticket in den Himmel gelöst hat. Wenn man aber einen Vertrag mit dem Teufel abschließt, ist das Reiseziel totsicher.

Okay, den Gedanken verstehe ich. Die Frage ist aber, ob daswirklichspirituelle Erlösung ist, die die Menschen dort erfahren. Oder nicht doch bloß ein technologisch erzeugter Schein. In der TV-Serie „Caprica“ (2010) will eine Priesterin und Terroristin etwas Ähnliches – sie will „das Paradies“ technologisch erzwingen; die Bewusstseine ihrer Anhänger*innen sollen nach dem Tod – durch Terroranschläge – in eine virtuelle Welt hochgeladen werden anstatt bloß ins Ungewisse hinein glauben zu müssen. Das klappt natürlich nicht und „Gott“ bleibt weiterhin ein nur schwer greifbarer Akteur. Aber ist gerade dieses Nicht-Greifbare nicht erst das, was Spiritualität auszeichnet, und wäre das Eingehen in Samson Freitags „Reines Land“ nicht bloß eine weitere Form eines goldenen Käfigs, an dem eigentlich gar nichts Spirituelles ist, sondern bloß Technik?

Dass Sie fragen, was „wirkliche“ spirituelle Erlösung ist, ist interessant. Es ist wie die Frage, ob Glück auch dann „echtes“ Glück ist, wenn es nur durch Hirnreize verursacht wird. Es ist die Frage, ob ein unglücklicher Sokrates erstrebenswerter ist als ein glückliches Schwein. Diese Frage beschäftigt die Philosophen schon seit Jahrtausenden. Im alten Griechenland kannte man aber noch nicht die Funktionsweise des Gehirns. Solange wir nicht beweisen können, ob es (k)einen Gott gibt, erleben wir nur, was unser Gehirn erlebt.

Da kommt mir noch was anderes in den Sinn, ein Zitat: „Ich weiß, dass dieses Steak nicht existiert. Ich weiß, dass, wenn ich es in meinen Mund stecke, die Matrix meinem Gehirn sagt, dass es saftig ist und ganz köstlich. […] Unwissenheit ist ein Segen.“ (aus dem Film „Matrix“, der dieses Jahr 20 Jahre alt wurde).

Unserem Gehirn ist es egal, woher die Glückshormone kommen – so sehr die Erziehung oder die Sehnsucht nach Sinn in uns dem Glück auch eine tiefere Bedeutung beimessen wollen. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich empfinde jegliche religiöse Paradiesvorstellung als goldenen Käfig.

Das Reine Land hat aber noch eine andere Komponente, und die ist bisher den meisten Leser*innen (vielleicht aufgrund des kulturellen Hintergrunds) entgangen. Das Reine Land ist ein buddhistisches Konzept. Es ist eine Vorstufe, ein Vorhimmel, in dem die Seelen sich auf die „echte“ Erlösung im Nirwana vorbereiten können.

Oh, das wusste ich tatsächlich nicht. Vor dem Hintergrund gewinnen die Figur Samson Freitag (der als Roboter wiedergeborene Mensch, der ja quasi noch ein „Hybrid“ ist) sowie das von neueren (nicht auf einer früheren menschlichen Existenz beruhenden) Robotern verfolgte politische Ziel, diese Hybriden abzuschaffen, ja noch eine ganz andere Bedeutung!

Zwischen Dystopie und Utopie

Die Gesellschaft, die Sie in Ihren Romanen zeigen, ist wie eine Gratwanderung zwischen Utopie und Dystopie. Es gibt in ihr ein durchaus komfortables Leben, aber nur, wenn man sich der Überwachung nicht entzieht. Sehen Sie selbst Ihr Buch als Warnung vor möglichen Entwicklungen, oder gibt es Aspekte an der BEU, die Ihnen sinnvoll, sogar erstrebenswert erscheinen?

Ich finde viele Entwicklungen und Errungenschaften der BEU durchaus erstrebenswert. Der Dreh- und Angelpunkt zwischen Utopie und Dystopie ist für mich die Freiheit der persönlichen Entscheidung. Wenn ich die Wahl habe, mich zu optimieren oder die Wahl habe, mich integrieren zu lassen, ist das eine positive Entwicklung. Wird aber ein gesellschaftlicher Zwang daraus, ist es eine Diktatur. Die Grenzen sind oft fließend.

Zum Beispiel müssen wir unseren Konsum von Fleisch und Milchprodukten massiv einschränken, um das Klima zu schonen. Deshalb hoffe ich auf leckeres Synthfleisch.

Ich persönlich bin außerdem ein großer Fan des Bedingungslosen Grundeinkommens und auch der festen Überzeugung, dass wir in Hinblick auf Automatisierung und Einsatz der KI in der Arbeitswelt gar nicht darum herumkommen werden.

Darf ich fragen, welches Modell Sie da favorisieren?

Das einfachste: 1000 Euro (oder eine vergleichbar hohe Summe, die ein menschenwürdiges Leben in der jeweiligen Region ermöglich), bedingungslos für jeden. Und dann sehen wir weiter.

Die „Integration“, über die Sie in Ihrem Buch schreiben, ist auch einer der Teile, die sowohl locken als auch erschrecken. Ich versuche ja gerade,mich der Integration in Facebook und WhatsApp zu verweigern. Ich merke aber auch, wie viel einfacher es mit Facebook wäre, z.B. die Beiträge unseres Blogs bekannter zu machen. Man merkt heute schon, wie sehr man bestimmte Technologien eigentlich braucht, wenn man „mithalten“ will …

Ich habe vor kurzem mit großem Bedauern und unterProtestmeinen Widerstand gegen WhatsApp aufgegeben, weil die gesellschaftlichen Nachteile, die ich und meine Familie durch das Fernblieben von WhatsApp erfahren mussten, nicht mehr hinnehmbar waren. Ich fand und finde das nach wie vor schlimm. Ich hoffe, dass wir es in naher Zukunft schaffen, den Facebook-Konzern politisch so in die Schranken zu weisen, dass der Datenschutz wieder gewahrt wird.

Autorinnenin der Science Fiction und struktureller Sexismus

Nicht-männliche und nicht-weiße Menschen erscheinen als Autor*innen zu technischen Themen und auch im Science-Fiction-Genre noch immer als Ausnahme. Gerade muss ich anNnedi Okorafordenken, weil von ihr vor einer Weile zwei Bücher auf Deutsch erschienen sind. Aber wenn man in große Buchläden geht, sieht man vor allem weiße männliche Autoren. Woran liegt diese Wahrnehmung — läuft da viel unter dem Radar der großen Verlage bzw. von deren Marketing ab, oder trifft es nach wie vor zu, dass Mädchen und Frauen nicht so „technisch“ sozialisiert werden und darum weniger dazu arbeiten?

Struktureller Sexismus, wie wir ihn in vielen Bereichen unserer Gesellschaft kennen, ist ein sich selbstverstärkender Prozess. Wenn Mädchen eingeredet wird: Technik ist nichts für dich und Informatik auch nicht, dann werden sie sich seltener für diese Themen interessieren, seltener in diesen Bereichen arbeiten und so haben wir dann wieder eine Realität, in der es fast nur Grundschullehrerinnen und fast nur KFZ-Mechatroniker gibt, die sich Jungs und Mädchen dann wieder als entsprechende Vorbilder heraussuchen.

Erfreulicherweise brechen diese verkrusteten Strukturen endlich auf. Männer werden Erzieher, Frauen Informatikprofessorinnen und geschlechtergerechte Sprache hilft Kindern dabei, sich ihre Zukunft unabhängig von sprachlichen Stereotypen auszumalen. Das alles ist aber ein langsamer und langwieriger Prozess, der immer wieder neu angestoßen werden muss, denn von alleine passiert die Gleichberechtigung nicht.

Seit gut einem Jahr engagiere ich mich aktiv für die Sichtbarkeit von Frauen in der Gesellschaft im Allgemeinen und in der Science Fiction im Besonderen. Aus erster Hand erfahre ich nun, wie es ist, als Frau in einem Genre zu schreiben, das zum Großteil den Männern vorbehalten ist. DasProjekt „Frauenzählen“ von Nina Georgebeweist, dass das Gefühl nicht trügt: Von Frauen verfasste Science-Fiction-Romane werden wesentlich seltener rezensiert (und damit öffentlich wahrgenommen) als von Männern verfasste. Das Verhältnis liegt bei 21:79! Das ist noch schlechter als im „normalen“ Literaturbetrieb, wo Literatur von Frauen lediglich halb so oft besprochen wird wie die von Männern.

So ist es kein Wunder, dass Science-Fiction-Autorinnen in der öffentlichen Wahrnehmung nahezu unsichtbar sind. Doch es gibt sie, das kann ich versichern. Wer sich einen Überblick verschaffen möchte, dem empfehle ich die neue „Liste deutschsprachiger Science-Fiction-Autorinnen“ auf Wikipedia. Da findet man eine ganze Menge Autorinnen, deren Werke lesenswert sind.

Welche nicht-männlichen und ggf. nicht-weißen Autor*innen zu verwandten Themen würden Sie zum Weiterlesen empfehlen — sowohl fiktional als auch technikphilosophisch? Gibt es international welche, die Ihrer Ansicht nach eigentlich mal ins Deutsche übersetzt werden sollten?

Ich bin der Sexismus-Falle auch erst seit gut einem Jahr entstiegen. Alles was ich bis dahin gelesen habe, war zu 98% weiß und männlich – ohne dass ich dies intendiert hätte oder es mir überhaupt aufgefallen wäre! Das ist für mich selbst am erstaunlichsten und auch ein bisschen beschämend. Aber deshalb kann ich auch verstehen, wenn es anderen ähnlich geht. Das passiert leider, wenn man die Bücher nach Cover oder Empfehlung aussucht und sich keine Gedanken darüber macht, wer sie eigentlich geschrieben hat. In den letzten Monaten habe ich aber ein bisschen aufgeholt und bemühe mich, weiblicher und im Allgemeinen diverser zu lesen. Hier also ein paar Empfehlungen – wenn Sie mich in ein paar Jahren noch einmal fragen, habe ich da hoffentlich mehr zu bieten:

Allen, die sich für Science-Fiction und Utopien interessieren, kann ich das Werk vonUrsula K. Le Guin empfehlen, das 2018 und 2019 auch neu ins Deutsche übersetzt wurde. Ich mag an Le Guin besonders, dass sie positive Gesellschaftsentwürfe beschreibt (in denen die Menschen mit ihren Schwächen natürlich trotzdem auf Probleme stoßen), die Anlass zur Hoffnung geben.

Dann hat mirAnn Leckies Roman „Maschinen“gut gefallen. Er ist besonders in der deutschen Übersetzung interessant, da hier experimentell im generischen Femininum geschrieben wird – eine Erfahrung, die mir noch einmal die Augen dafür geöffnet hat, wie selbstverständlich wir das generische Maskulinum benutzen und damit dem Male-Bias in allen Bereichen Vorschub leisten.

Sehr interessant finde ich auch dieRomane von Judith Vogt, die sie teilweise allein, teilweise zusammen mit ihrem Mann Christian schreibt. Judith ist eine Autorin, die mich auf dem Weg zum Feminismus sehr beeinflusst hat. Dabei setzt sie sich nicht nur für Frauen in der Literatur ein, sondern generell für mehr Diversität. Im Oktober wird ihr neuer Roman „Wasteland“ erscheinen, in dem mit so manchen Gender-Stereotypen gebrochen wird.

Für weitere Leseempfehlungen von Autor*innen, die nicht männlich und weiß sind, bin ich immer dankbar!

InIhrem Blogschreiben Sie über die Probleme, die Wikipedia offenbar mit einer von Ihnen erstellten Liste weiblicher SF-Schriftstellerinnen hat — bzw. dass diese Liste von Männern als irrelevant abgetan wird. SogarJan Böhmermann hat darüber berichtet, und es gibteine Petition. Wie ist denn da der Stand, und welche Erfahrungen — positive wie negative — machen Sie als weibliche Autorin fiktionaler Texte mit sowohl politischen als auch technologischen Themen?

MeineListe deutschsprachiger Science-Fiction-Autorinnenhat die heiße Diskussionsphase glücklicherweise überlebt. Aber am 20. Juli wurde der Wikipedia-Artikel über dasNornennetz – Netzwerk für Fantastik-Autorinnengelöscht und der neu angelegte Wikipedia-Artikel über dasPhantastik-Autoren-Netzwerk (PAN)zur Löschung vorgeschlagen. Offenbar sind dafür die gleichen Wikipedianer*innen verantwortlich, die schon gegen die Liste deutschsprachiger Science-Fiction-Autorinnen gewettert haben. Es scheint also, als ob der Kampf für mehr Sichtbarkeit von Frauen in eine zweite Runde geht.

Die ganze Wikipedia-Diskussion der vergangen Monate ist mittlerweile auf eine Länge von über 1200 Romanseiten angewachsen (wenn man denn Lust hätte, das Ganze auszudrucken!) In meinem Blog unter #wikifuerallegehe ich im Detail auf die verschiedenen Aspekte unseres Projekts ein, deshalb an dieser Stelle nur so viel:

Weil wir vermeiden wollten, dass zukünftig wieder weibliche Listen wegen vermeintlicher „Irrelevanz, Redundanz und Dubiosität“ gelöscht werden, haben wir die Aktion #wikifueralle ins Leben gerufen. Ziel war es, Frauen und nicht-binäre Menschen in der deutschsprachigen Wikipedia sichtbarer zu machen. Unsere Anliegen

  1. Gemischtgeschlechtliche Listen, in denen sowohl Frauen als auch Männer aufgeführt werden, wie z.B. dieListe von Malern, sollten in Zukunft „Liste von Malerinnen und Malern“ genannt werden können. Außerdem sollten die Listen nach Geschlecht sortierbar sein können.

  2. Generell sollte es möglich (nicht verpflichtend) sein, die Wikipedia-Artikeltexte in geschlechtergerechter Sprache zu verfassen.

  3. Artikeltitel und Kategorien sollten auf Beidnennung umgestellt werden können. So hätte also der ArtikelRaumfahrerin Zukunft „Raumfahrerin und Raumfahrer“ heißen können.

  4. Über unserePetition auf change.orghaben wir Neulinge und insbesondere Frauen und nicht-binäre Menschen dazu aufgerufen, sich an der Wikipedia zu beteiligen, um auf diese Weise den Male-Bias zu beseitigen. Denn etwa 10-15% der Wikipedia-Autor*innen sind keine Männer, nur 15% aller Biographien wurden über Frauen verfasst.

Die Anliegen 1-3 haben wir mithilfe sogenannter Meinungsbilder zur Abstimmung gebracht. So können aktive Wikipedia-Autor*innen (mit mehr als 200 Artikelbearbeitungen) über die Regeln und Verfahren der Wikipedia bestimmen. Leider wurden alle unsere Vorschläge abgelehnt. Mich hat das besonders enttäuscht, da wir in unseren Vorschlägen niemanden einschränken, sondern lediglich eine Möglichkeit fürmehrDiversität bieten wollten. Leider hat die Community auch dies abgelehnt.

Auch sehr bedauerlich fand ich, dass wir im Laufe der Diskussion immer mehr Abstand davon nehmen mussten, auch nicht-binäre Menschen in unsere Vorschläge einzubeziehen und uns hauptsächlich auf die binäre Beidnennung beschränken mussten (die ja dann trotzdem abgelehnt wurde). Das lag an den technischen Gegebenheiten der Wikipedia. Weil * und _ keine normalen Buchstaben sind, hätten Titel oder Kategorien in geschlechtergerechter Sprache mit Genderstern oder Gendergap zu unvorhersehbaren Problemen bei der internen Suche geführt. Deshalb mussten wir dieses Vorhaben relativ schnell fallenlassen.

Ich habe in den langen #wikifueralle Diskussionen eine Menge über die Wikipedia-Community gelernt und im Zuge dessen auf einigestrukturelle Probleme aufmerksam gemacht. Generell halte ich die Wikipedia aber nach wie vor für eine großartige Errungenschaft des freien Internets. Wie in jedem anderen Sozialen Medium gibt es auch hier Trolle, die besonders laut schreien. Doch im Hintergrund arbeiten tausende ehrenamtliche Menschen, die sich vielleicht nicht an den Diskussionen beteiligen, die aber inhaltlich den Laden am Laufen halten. Deshalb möchte ich nach wie vor jede*n ermutigen, bei der Wikipedia mitzuarbeiten und die Community so insgesamt offener und diverser zu machen.

Über das Schreiben und zur Arbeit mit Verlagen

Erzählen Sie bitte etwas über Ihren fachlichen Hintergrund. Sie haben Philosophie studiert, mit welchen Schwerpunkten? Sie schreiben Romane, die man auch als Science Fiction klassifizieren kann. Sehen Sie sich primär als Philosophin (und arbeiten auch als solche) oder als Schriftstellerin?

Ich hatte das Glück, noch einen Magisterstudiengang absolvieren zu dürfen, bei dem ich Politik als Hauptfach und Philosophie und VWL als Nebenfach studieren konnte. Das war eine tolle Kombination, um Herkunft, Funktion und Auswirkungen der Politik von allen Seiten zu beleuchten. Meine politiktheoretischen Schwerpunkte lagen beim Gesellschaftsvertrag. Besonders mochte ich die Ansätze von Jean-Jacques Rousseau und John Rawls aber an Platon und Aristoteles kommt man als Staatstheoretikerin natürlich nicht vorbei! Ich mag normative Politiktheorien, die das positive (und irrationale) Wesen der Menschen miteinbeziehen. Rein mechanische Theorien (wie sie vor allem in der Analyse der Internationalen Beziehungen vorkommen) funktionieren zwar, fühlen sich aber irgendwie immer an, als habe man einen Stein im Schuh. Man kann den menschlichen Faktor einfach nicht aus der Politik herauskürzen. Die USA unter Obama und die USA unter Trump sind zwei vollkommen verschiedene Akteure.

In der Philosophie habe ich mich neben Staatstheorie auch viel mit Religionsphilosophie beschäftigt. Zwei Hauptfelder waren das Problem der Theodizee (warum lässt Gott das Übel in der Welt zu?) und die Mechanismen von Sünde und Erlösung.

In Hinblick auf meine Romane kann man also sagen: Das ergibt bisher durchaus alles Sinn! Ich sehe mich aber weiterhin hauptsächlich als Schriftstellerin – Meine Ideen in Geschichten zu verpacken macht eindeutig mehr Spaß, als wissenschaftliche Texte zu verfassen.

Wie sind Sie zu Ihrem Thema gekommen?

Ich selber war immer schon technik-affin und habe gerne programmiert und mich mit Science-Fiction beschäftigt. Trotzdem habe ich mich beim Schreiben von „Die Optimierer“ selbst gar nicht als Science-Fiction-Autorin gesehen. Für mich spielt der gesellschaftspolitische Aspekt eine größere Rolle. Aber die technische, in die Zukunft extrapolierte Fiktion – sprich Science-Fiction – macht die Sache für mich interessanter. Generell mag ich Geschichten, in denen nicht alles läuft, wie erwartet und an irgendeiner Stelle die Realität aus den Fugen gerät.

Waren Sie in der Ausgestaltung Ihrer beiden Romane frei oder hat Ihr Verlag Einfluss genommen?

Ich war inhaltlich frei. Aber beim Titel konnte ich mich mit meinen Vorstellungen leider nicht durchsetzen. Mein Wunschtitel für „Die Unvollkommenen“ war eigentlich „Reines Land“. Leider war dieser Titel dem Verlag zu heikel, da befürchtet wurde, uninformierte Leser könnten vermuten, der Roman sei politisch rechts zu verorten und würde sich deshalb schlecht verkaufen.

Ach Gott. Ja, wenn man darauf gestoßen wird, könnte man diese Befürchtung vielleicht nachvollziehen, aber in dem Kontext, in dem der Roman erschienen ist, bei dem Klappentext und bei der Handlung wäre ich von selbst nicht auf diese Idee gekommen. Wie sehen Sie persönlich solche Vorsichtsmaßnahmen? Sind die sinnvoll oder heute gar nötig?

Ich bin unschlüssig. Nach wie vor trauere ich dem Titel ein wenig nach. Andererseits hat der Vertrieb eines so großen Verlags mehr Erfahrung, was die „Verkäuflichkeit“ eines Titels betrifft. Obwohl ich gerne alles so machen würde, wie ich es für richtig halte, habe ich doch ein Interesse daran, dass meine Bücher gelesen werden! Wenn der Titel stimmt, das Buch aber am Ende keiner liest, habe ich auch nichts gewonnen.

War von Anfang an eine Fortsetzung zu „Die Optimierer“ geplant oder war das ein Wunsch des Verlags?

„Die Optimierer“ war ursprünglich als eigenständige und abgeschlossene Geschichte geplant. Nachdem der Roman aber einigen Erfolg hatte, wurde ich gefragt, ob ich nicht eine Fortsetzung schreiben wolle. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon eine andere Geschichte konzipiert und schon ein paar Kapitel geschrieben. Wie sich herausstellte, passten die Idee und das Konzept nach einigen Anpassungen wunderbar in die Optimalwohlökonomie der BEU und schon nach kurzer Zeit fügten sich die Storylines ineinander, als sei alles von langer Hand geplant worden. Das ist die Magie beim Schreiben. Ein Kollege meinte neulich, dass das Unterbewusstsein die Geschichten wahrscheinlich schon längst fertig hat und sie dem schreibenden Ich einfach Stück für Stück offenbart.

So ist auch „Die Unvollkommenen“ eigentlich ein in sich abgeschlossener, eigenständiger Roman (wenn man die Wahl hat, ist es trotzdem sinnvoll „Die Optimierer“ vorher zu lesen).

Ich würde das sogar unbedingt empfehlen. Die ganze Welt wird reichhaltiger und stimmiger, wenn man den ersten Band gelesen hat. Wird es denn jetzt, wo sich die Situation im 2. Band so verändert hat, noch einen dritten Teil geben?

Es gibt natürlich immer Anknüpfungspunkte für neue Geschichten. In diesem Sinne will ich es nicht kategorisch ausschließen, dass es irgendwann einen 3. Teil geben könnte, zumal der Wunsch auch schon von einigen Leser*innen geäußert wurde. Aber auch dann wäre der Roman eine in sich geschlossene Geschichte, die ein neues Thema bearbeiten würde. Wir werden sehen, was die Zukunft bringt.

Ich bin sehr gespannt darauf – in doppelter Hinsicht ;-)und danke Ihnen für das Interview!

Ich danke Ihnen! Es hat mir großen Spaß gemacht!

Disclaimer: Dieses Interview wurde per E-Mail-Austausch geführt und erschien zuerst auf ueberstrom.net.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Mario Donick

Autor und Teilzeit-Kommunikationsforscher

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