Gentrification is great!

Kiez-Stories. Kreuzberg, irgendwo am Kotti. Die Bohème trifft auf moderne Performer-Prekaritäten, unter anderen Deklassierten. Kiez-Story und Einblick in das Phänomen der Distinktion.

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Eine dieser Fanzine-Release-Parties, von denen es in Berlins subkulturellen Szenen nicht wenige gibt, an irgendeinem der vergangenen Wochenenden am Kottbusser Tor. Es dauert etwas, sich durch die Masse selbstvergessener Feierwütiger zu schlängeln, die abwechselnd mit Bierflaschen am Boden hockend den Weg versperren. Endlich angekommen haben wir das Beste fast verpasst – die Party fing offenbar, entgegen anderslautender Erfahrung, wohl relativ pünktlich an.

Drinnen singt noch einer über Das Formular und andere Alltagsabsurditäten einer postmodernen Gesellschaft, wo Individuen nicht länger in irgendwelche Schubladen und Kategorien passen mögen. Das Publikum scheint entgegen aller nach außen getragenen Hyperindividualisierung der Einzelnen relativ homogen in seinem gleichsam unbewusst nach außen getragenen Lebensstil: irgendwie junggeblieben – also noch unter vierzig – und irgendwie kunst- und kulturmachende oder -interessierte Personen, wie man sie allenthalben antrifft unter der seit Anfang 2000 in Strömen zuziehenden Einwohner_innenschaft Kreuzbergs und Neuköllns.

Das Magazin kostet circa sieben Euro, was angesichts der darin liebevoll investierten Kreativarbeit nahezu lächerlich niedrig wirkt. Teurer allerdings ließe es sich sicher auch nicht veräußern, zumal die avisierte und anwesende Adressat_innengruppe selbst überwiegend ökonomisch prekär aufgestellt zu sein scheint. Menschen eben, die immer hier und da „ein Projekt“ am Start haben, und denen die kreative Selbstausbeutungsarbeit und monetäre Unsicherheit zum Lebensstil geworden ist. Gleiche unter Gleichen könnte man meinen. Doch es sind auch Ausnahmen von der Regel anwesend.

Interessanter noch als die Release-Party sind nämlich die Gruppengespräche beim Rauchen vor der Türe, sie kommen unwissentlich abgegebenen soziologischen Interviewaussagen gleich. Zumindest wenn eine aktuell ebenfalls prekär existierende Soziologin mit anwesend ist und munter interpretiert, in soziologische Kategorien und Schubladen einordnet.

„Gentrification is great!“ never meets Gecekondu

Eine zusammenstehende Gruppe älterer – das heißt nun ein gutes Stück über 40 – dem Vernehmen nach im akademischen Umfeld von Kunst und Kultur Etablierter, tauscht sich in einem mit unterschiedlichen Akzenten durchsetzten Englisch weithin hörbar über vergangene und anstehende Auslandsreisen (Distinktion!) aus. Und sinniert im Anschluss daran über ein Thema, das andere, weil betroffen, auf die Barrikaden treibt. Scheinbar auf der Suche nach inspirierenden Themen für ihre Studierenden lässt sich eine der Damen zu der verzückten Aussage hinreißen, „Gentrification“ sei „great!“ – wohl so als Thema. „Yes, and it attracts lots of students!“ nimmt ein weiterer in der Runde begeistert den Faden auf. Und in diesem Duktus wird noch ein Weilchen munter weiter parliert und geschäkert.

Dieser nonchalanten Betrachtung bourgeoiser Kulturmenschen steht das real erfahrene Bedrohungsszenario der eigenen Verdrängung durch Aufwertungsprozesse im unmittelbaren Wohn- und Lebensumfeld hart gegenüber. Wie zur provokativen Demonstration drängt sich den Qualmenden die Kotti-Skyline in den Blick, zu deren Füßen auf Seiten der Admiralstraße der Widerstand gegen eben jenes Gentrizierungsmonster der alteingesessenen Kreuzberger_innen dauerhafte Form angenommen hat.

Weniger als 150 Meter gegenüber vom Veranstaltungsort liegt nämlich gleich das nachbarschaftlich organisierte Info- und Austausch-Gecekondu (türkisch für informell-provisorisch erbautes Haus bzw. Siedlung). Die Mietergemeinschaft von Kotti & Co hat dort ihren Sitz und informiert über die massiven Mietpreissteigerungen im von der Stadt Berlin einst privatisierten sozialen Wohnungsbau und die Folgen für die langjährigen Mieter_innen. Diese stehen oft vor der Entscheidung weiter die Hälfte ihres Einkommens - Tendenz steigend - für die Miete auszugeben, um die steigenden Profitinteressen von GSW oder anderer Hausverwaltungsunternehmen zu bedienen. Oder umzuziehen, wie es das JobCenter oftmals "nahelegt", um die sogenannten "Kosten der Unterkunft" (KdU) zu senken. Die Initiative stellt daher politische Forderungen zur Mietpreisdeckelung, zum Bestandsschutz und zum Schutz der heterogenen Mieterschaft im Kiez insgesamt auf und organisiert (Lärm-)Demos, um auf das Problem aufmerksam zu machen.

Was die von Gentrifizierung und Prekarisierung Betroffenen in ihrem Protesthaus von solcherlei distinguiertem Geschwätz wohl halten würden? Reine Spekulation. Allerdings darf als unwahrscheinlich gelten, dass sie sich begegnen. Lebensstile entspringen distinkten sozialen Milieus, vereinen sozioökonomisch und –kulturell Gleiche durch einen gemeinsamen Habitus – u.a. die Sicht auf die Welt - und grenzen sich nach außen gegen „die Anderen“ ab. Was den einen die unmittelbare Bedrohung, ist den anderen vornehmlich ein interessantes Sujet, über das sich trefflich philosophieren lässt. So bleiben alle in ihrer eigenen kleinen Welt, sogar wenn sie sich durch Zufall mal am gleichen Ort befinden.

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