Geschlossene Einfalt

Islamismusdebatte. Die nachhaltige gesellschaftliche Lähmung, die jedem Terroranschlag von Islamisten innewohnt, erreichen letztere nicht allein. Die deutsche Debattenkultur tut ihr Übriges

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Angesichts der barbarischen Gewaltexzesse, die jihadistische Killerkommandos in Paris an rund 480 Menschen insgesamt exekutierten, platzen die existenziellen Themen und Fragen, wie die nach dem gesellschaftlichen Zusammenleben mit Wucht wieder ins öffentliche wie individuelle Bewusstsein, sollte man meinen. Doch ein Blick auf die hierzulande tradierten Reaktionsmuster aus der deutschen Debattenkultur samt ihren Debattenritualen ist aufschlussreich und ernüchternd zugleich. Bezogen auf islamistischen Terror und dessen Ideologie lässt sich in dieser Hinsicht perspektivisch nur wenig Beruhigendes, Erbauliches oder gar Widerständiges ausmachen, sollte der „Jihad“ demnächst auch hierzulande zuschlagen. Als die Pariser Bürgerinnen und Bürger trotz verhängten Ausnahmezustands schon in den ersten Tagen nach dem Anschlag die Rückkehr auf die öffentlichen Straßen und Plätze immerhin als bewusst trotzigen kleinen Akt der résistance feierten, so zeichnete sich angesichts der kollektiv getragenen, vitalen Zeichen Hoffnung auf Widerstand an. Lust auf Liberté statt German Angst. Statt die naheliegende Frage nach Widerstand und Freiheit zu diskutieren, arbeitete sich hierzulande die erste Wut über die Barbarei an de Maizières berüchtigten Nachsatz von der „Beunruhigung der Bürger“ ab. Mit seziererischer Beflissenenheit wurde tagelang auseinandergenommen, wie dies nun zu deuten sei, auf einer Skala von totaler Sicherheit bis gleich sind wir alle tot. German Angst also auf der Suche nach dem deutschen Begriff von Freiheit: dem Recht auf Sicherheit.

Bedeuten die Anschläge vom 13. November etwa eine „neue Qualität“? fokussiert der angstvoll vereengte deutsche Blick auf „unsere Sicherheit“, welcher seitens Berichterstatter, Kommentatoren und erregter Foristen eifrig diskutiert wird. Ganz so als hätte man sich bislang von den Folgen des globalen Aufstiegs islamistischer Ideologie und deren Durchdringung der politischen Kultur wie Alltagsrealität völlig abschotten können. Frauen, Homosexuelle, Andersdenkende, "Apostaten" und innerislamische AufklärerInnen warnen schon lange vor dem wiedererstarkten Einfluss der Islamisten. „Anders als im Januar“, kolportierte dagegen eine Debattenperspektive hierzulande, läge die „neue Qualität“ der Anschläge in Paris nun darin, dass sie sich „nicht mehr gegen bestimmte Ziele“ richteten. Damit wird auch klar, wer bislang nicht in Überlegungen über „unsere Sicherheit“ einbezogen wurde, wo es scheinbar erst jetzt alle treffen kann: die Jüdinnen und Juden in Europa, deren Sorgen über den Aufstieg des Islamismus und dessen inhärenten Antisemitismus schon länger im Diskurs ignoriert oder beschwichtigt werden. Und diejenigen, die sich die bürgerlichen Freiheits- und Gleichheitsrechte nicht durch den schlechten Debattenkonsens der Relativierung selbiger einschränken lassen wollten. Damit verweist die Rede von bestimmten Zielen auf die neuralgischen Punkte der deutschen Zustände und ihrer kulturalisierenden Beschwörung falscher Sicherheit durch Konsensrituale. Mit den bekannten Folgen der Entsolidarisierung und Preisgabe einer lebendigen Debattenkultur zugunsten partikularistischer Zugeständnisse an reaktionäre gesellschaftliche Einflüsse, aus einem verkürzten Antirassismusverständnis, aus „Respekt“ vor „religiösen Gefühlen“ und „kulturellen Unterschieden“. Doch trotz der vernehmbar so plötzlichen Erkenntnis der eigenen konkreten Verletzlichkeit, vom Terror jederzeit getroffen werden zu können, sucht die Debattenkultur ausgerechnet weiter Halt in den denselben Debattenritualen, die das Elend zu lange schon verstetigten.

Zu den unausweichlichen Folgen islamistischer Anschläge gehören seit post 9/11 hierzulande die Rituale der mittlerweile völlig institutionalisierten Debattenkultur rund um Islam und Muslime. Sie versprechen, das tradierte Primärbedürfnis nach Sicherheit durch die ritualisierte Wiederholung des immer Gleichen zu bedienen. So schielt man stets erwartungsvoll auf die Antworten der einst selbst in den Rang von Autoritäten gedrängten wie erkorenen islamischen Verbandsvertreter, die sich bequem und zuverlässig konsultieren lassen wann immer es um irgendwas mit Islam geht – Integration zum Beispiel, oder auch islamistischen Terror. Die Funktionäre wollen oder können aber partout nicht liefern. Zumindest auch diesmal wieder nichts allgemein nachvollziehbar Vernünftiges: „Im Bewusstsein der Barmherzigkeit Allahs stehen wir vereint in unserer Liebe zum Nächsten und in Achtung vor dem Leben“, hieß es auf der Pressekonferenz von Zentralrat (ZMD), Islamrat und anderen nach den jüngsten Anschlägen. Angesichts der in Paris gerade erst wiederholten Tötung im Namen „Allahs“ besticht die mit dem Stolz des aufrecht Gläubigen zur Schau getragene Selbstvergewisserung, den einzig wahren weil barmherzigen Islam zu verkörpern, durch solide Einfältigkeit. Im selben Glauben wie die Täter verhaftet, sich in ihrem ganzen Tun auf die buchgewordene und ideologisch unhinterfragbare Grundlagenkomponente (Koran/ "Allah") stützen zu müssen, um sich just von diesen Taten distanzieren zu dürfen, wird dies vom politischen und medialen Bewältigungsbetrieb gerade nicht als Borniertheit erkannt sondern dankbar angenommen. Die „klare Distanzierung“ sei „zu erwarten“ gewesen, täuscht sich der nicht weniger einfältige bundesdeutsche Konsens beispielsweise mit Claudia Hannen in der taz selbst über die Sinnlosigkeit dieses ewigen Debattenrituals hinweg. Dessen Kern besteht im gegenseitigen Austausch von Floskeln der Höflichkeit und der Anerkennung, mit dem alle Diskursbeteiligten aus der hierzulande so beliebten Begegnungs- und Dialogtradition vertraut sind. Am Ende bleibt das Unbehagen an der ausgemachten „Geschlossenen Vielfalt“, das sich freilich im Freudschen Lapsus nur andeutet: Womöglich ist allein die quantitative Veränderung – hinsichtlich des „neuen breiten Schulterschlusses“ der angeführten Islamverbände, die mit vereinter Stimme eigentlich wieder nichts zum Thema sagen – schon die einzig wirkliche News.

Die pflichtbewusst wie lustlos-uninspiriert vollzogenen Debattenrituale wirken im Eiertanz um die sprachlich vermittelten Tabus rund um die Benennung des Eigentlichen nur auf der funktionalen Settingebene als Form der Selbst- und Außenbeschwichtigung, und mithin dem deutschen Sicherheitsbedürfnis zuträglich. Was selbstredend auch die deutschen Muslime als Teil derselben Gesellschaft um- und antreiben dürfte, das Spiel mitzuspielen. Durch die Wiederholung des Ritualhaften rund um Distanzierung einerseits und der Anerkennungfixer und daher auch „zu erwartender“ Floskeln („Das sind keine Muslime“; „klare Distanzierung“), andererseits wird jedoch gerade jene nötige kritische Auseinandersetzung auf Augenhöhe, die aufklärend wirken könnte auf alle Beteiligten, vermieden. Mit der längst tradierten Übernahme der nebulösen Debattenphrasen rund um den „Missbrauch von Religion“ und mithin der sprachlich vermittelten Tabus in den eigenen Sprachgebrauch, leisten der politische und mediale Bewältigungsbetrieb ihren antiaufklärerischen Beitrag, auf dass die kritische „Auseinandersetzung“ unterschiedlicher Interessen und Gruppen rund um den Islam zuverlässig ausbleibt. Revolution und Aufklärung waren nie Sache deutschen Denkens, das traditionell ein Sicherheitsdenken ist. Die gesellschaftliche Tiefen- und Breitenwirkung erweist sich als durchschlagend, da mit den Tabus zugleich die dahinterliegende Angst in Form eines diffusen Misstrauens schon gegen das eigene Sprachhandeln konsolidiert wird. „Warum junge Frauen und Männer – in wessen Gottes Namen auch immer – Waffen in die Hand nehmen um andere Menschen niederzumetzeln“ (Caren Miosga, 19.11.2015) muss so im aktualisierten Tabu der Nichtbenennung nicht nur der Tagesthemen-Sprecherin, wie um sich selbst zu beschwören, „schlicht unbegreiflich“ bleiben. Bloß nicht Islamisten sagen. Oder Allah.

Damit erübrigt sich die bislang vermeintlich so umstrittene Dauerdebatte, ob „der Islam zu Deutschland“ gehört, auf ganz eigene und konkrete Weise: er ist bei allen Beteiligten habituell in Verhalten und Ausdruck längst Realität geworden. Im Glauben an letzte Wahrheiten, die keiner kritischen Überprüfung durch Hinterfragen unterzogen werden dürfen, ist die voraufklärerische Gewissheit durch die soziokulturellen Milieus bis in vermeintlich widerständigen Subkulturen und –szenen in Sprache und Handeln erkennbar fest integriert. So durften am Montag nach den Anschlägen auf dem „In Trauer und Verbundenheit“-Banner einer kleinen Gruppe von Antifaschistinnen und Antifaschisten vor dem Gedenkort an der französischen Botschaft in Berlin neben Anarcho-Signet und antifa-Logo scheinbar auch die Symbole der drei großen monotheistischen Religionen keinesfalls fehlen. Der durchschlagende Erfolg des typisch deutschen, kulturalisierenden Debattenkonsens' aus „interkulturellen“ Begegnungen und „interreligiösen Dialogen“ prägt eben allem und jeden den Stempel auf: Keine (Religions-)Kritik ohne Bekenntnis zum gesellschaftlichen Minimalkonsens aus Vielfalt, Toleranz, Koexistenz. Whatever that means. Die vor Ort kurz gehaltene Verlautbarung „gegen jeden Faschismus“, die den Kern des Problems erkennt aber nicht spezifizieren mag, zeugte ebenfalls davon.

Doch zeichnet sich vereinzelt auch Widerstand gegen die selbstverordnete Einfalt im deutschen Debattendschungel ab. Mitunter an unverhoffter Stelle und in für einen Grünen-Politiker erfrischend direkter Sprache, die in Person Cohn-Bendits („Wir müssen unsere Angst überwinden“/taz) nicht länger „drum herumreden“ möchte, welche Ideologie bei den Pariser Attentätern so tödlich am Wirken war: „Es ist ein islamischer Faschismus“. Darin liegt hoffnungsvolle Perspektive begründet, dass es eben doch „einen Kampf der Muslime um einen aufgeklärten Islam geben“ müsse. Mithin dass auch Befreiung aller Muslime und damit aller vom Phantasma des „wahren Islam“ nur das Werk der Muslime selber sein kann und muss. Was den Tabubruch mit selbstauferlegten Diskursverboten zur Voraussetzung hat. Den Bruch also mit dem deutschen Konsensglauben an die Unhinterfragbarkeit des "wahren Islams", von dem Verbandsvertreter wie Salafisten und IS gleichermaßen vorgeben, Hüter desselben zu sein. Mit Blick auf besagtes Phantasma führt Deniz Yücel in der Welt dazu, „der Islam, wie jedes andere Glaubens- und Weltanschauungssystem auch, die Summe dessen (sei), was seine Anhänger denken und tun“. Solange es den Dschihadismus gibt, gehöre er damit zum Islam – und ergo „inschallah eines Tages nicht mehr“.

Freilich braucht es im Prozess der eigenen Befreiung gelegentlich solidarische Verbündete. Die sich den deutschen Muslimen dabei traditionell andienenden linken und antirassistischen Subszenen, die ihre in den Social Media und andernorts erprobten Diskurslenkungs- und Reiz-Reaktionsmuster den Umständen entsprechend anpassen, diskreditieren sich selbstredend als kontraproduktiv. Die stets vorgeblich um Ausgleich von Differenz bemühten Anhänger der „Erbsenzählerei“ (Yücel/DieWelt) bereicherten die Debattenkultur in den Social Media wie auf Knopfdruck mit ihren ritualisierten, paternalistisch motivierten Empörungsbekundungen (Paris, ja? Und was ist mit Beirut,..?!). Sie scheinen allerdings nicht auf das bigotte Dauerphänomen der „moralisierenden Wichtigtuerei“ auf der Jagd nach einem kleinen Distinktionsgewinn reduzierbar, sondern geradezu ein deutsches Phänomen auf Suche nach Sicherheit in Zeiten der Krise zu sein.

Denn die islamistischen Anschläge zeitigen diesmal augenscheinlich auch erste Erschütterungen im politischen Lager der bewegungslinken und antirassistisch motivierten Positionierungsweltmeister. Im neuen deutschland (nd) schrieb sich Kolumnistin Elsa Koester dazu das Entsetzen von der Bewegungsseele, dass der IS mit den Anschlägen in Paris augenscheinlich eine neue Zielgruppe ins Visier genommen habe, die sie als „die linksliberale, kritische Mittelschicht“ ausgemachte. In den weiteren phantastischen Ausführungen als „tolerante, tendenziell antirassistische und pazifistische junge Menschen“ imaginiert, die „in den zerschossenen Cafés und Kneipen im zehnten und elften Bezirk von Paris“ lediglich „ihr ‚Demi‘“ bei antirassistischen Tischgesprächen getrunken hätten, hatte es diesmal offenbar die Falschen, weil Guten getroffen. Die Fassungslosigkeit darüber, dass der Jihadist keinerlei Grenzen, auch nicht die distinkter Polit-Milieus, anerkennt, ist mit Händen zu greifen. Nicht bedingungslose Solidarität aus Empathie für die Opfer und Überlebenden einer menschenfeindlichen Tat gerät in den Fokus, sondern das Moment der bloß menschengruppenfeindlichen Tat, von der man zuallererst selbst betroffen ist. Nicht „die Kriegsherren“, nicht die „dekadenten Eliten“ wurden attackiert: „Sondern wir. Wir Linken.“ Die Empörung und Wut über eine so ungerechte Welt gerät im verschwörungsaffinen Duktus („Für die meisten ist in Paris nicht die linksliberale Jugend gestorben, sondern der französische Bürger. So erzählt es uns die politische Elite“) und in der identifikatorischen Überhöhung der imaginierten Opfergruppe („Jenes Milieu eben, das in Frankreich wie auch in Deutschland sehr wichtig ist für den Zusammenhalt der Gesellschaft, weil es das größte Bollwerk gegen rechts darstellt“) schnell zur Nabelschau der eigenen Verletzlichkeit und Befindlichkeiten. Der pauschalisierende Rückfall in die antibürgerliche Ressentiments – gegen alles, was in der eigenen Sicht mit „elitär“, „westlich“ und „dekadent“ negativ konnotiert wird –, die man mit beiden reaktionären Strömungen, der rechten wie der islamistischen teilt, zeugt mehr von der primitiven Spaltung der Welt in Gut und Böse, denn die behauptete gesellschaftliche Relevanz als antireaktionäres „Bollwerk“ auch nur im Ansatz einzulösen.

So wie es stimmt, dass kein Mensch illegal sein kann, so stimmt auch, dass kein Mensch schuld an seiner eigenen Hinrichtung durch Islamofaschisten sein kann. Es sei denn man teilt dieselbe verquer-partikulare Weltsicht, in der Freiheitsrechte und das Recht auf Leben nicht mehr universale Fixpunkte sind, die unteilbar allen Menschen grundsätzlich zustehen. So verweisen die ideologisch motivierten Zerfallsprozesse mancher Polit- und Bewegungstradition wie von selbst auf die langfristig einzig relevanten Perspektiven mit Widerstandspotential gegen die jihadistischen Welteroberungs- und Gewaltphantasien. Als da sind jene, die anfangen, den ewigen Kulturalismus und Relativismus zu überdenken. Gegen jede Form von Faschismus heißt auch gegen den islamistischen.

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