"Komm', der Weihnachtsmann hat zu!"

Reportage Berlin. Der Terror ist da, er beginnt im Kopf: Eine kleinere Explosion und ein Brand auf dem "Lucia"-Weihnachtsmarkt – großes Einsatzaufgebot und ambivalente Reaktionen.

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„Okay, wir evakuieren doch“ ruft die Dame in Zivil, das Smartphone am Ohr, über die Köpfe der Besucher hinweg. Zu einem Security-Mitarbeiter, der einige Meter weiter mit Kollegen und der Polizei diskutiert. Keine normale Besucherin diese Frau, so viel ist klar. Kurz vor halb fünf Uhr vergangenen Sonntagnachmittag sind auf dem nordischen „Lucia“-Weihnachtsmarkt im Stadtteil Prenzlauer Berg auch Gesprächsfetzen über Funk vernehmbar, die irgendetwas mit Sicherheit zu tun haben. Zu sehen ist nichts, zumindest in diesem Teil des L-förmigen Geländes der Kulturbrauerei. Kurz darauf ertönt es über die Lautsprecher des Innenhofes: „Liebe Besucher des Weihnachtsmarktes, bitte verlassen Sie aus polizeilichen Gründen sofort den Markt“. Kurzes Innehalten. Manche Besucher wirken irritiert, andere haben gar nicht zugehört, die Aufmerksamkeit ganz vom Budenangebot in Beschlag genommen. „Es tut uns leid, aber es hat wohl einen Unfall gegeben. Bitte gehen Sie. Wir hoffen, dass es keine Verletzten gibt“, ergänzt die blecherne Frauenstimme noch knapp. Ende der Durchsage.

Hat es gerade ‚hoffen‘ und ‚gibt‘ geheißen – droht etwa weiter Gefahr? Die kuriose Durchsage schärft den Blick des Besuchers. Zum Beispiel dahingehend, dass sich für einen dritten Adventssonntag erstaunlich wenige Menschen auf diesem Weihnachtsmarkt tummeln – in dem Stadtviertel mit so vielen jungen Familien. Unheil schwebt jetzt über dem Ort, zeichnet sich als Besorgnis auf fragenden Gesichtern ab. Niemand spricht es aus. Doch knapp einen Monat nach der Anschlagserie von Paris dürfte der Terror in der Vorstellung der Anwesenden präsenter sein als noch vor ein, zwei Jahren. Als abstrakte Gefährdungslage für Deutschland, wie es nach den jihadistischen Massakern allenthalben hieß, sowieso. Als vage Bedrohung, die sich potentiell jederzeit als unmittelbare individuelle Betroffenheit entpuppen kann, genau jetzt.

Jeder Zweite hierzulande, so einer repräsentativen Umfrage der R+V-Versicherungsgruppe zu den „Ängsten der Deutschen 2015“ zufolge, fürchtete sich vor einem Anschlag. Die Angst vor Terror ist im Vergleich zum Vorjahr sprunghaft von 39 auf 52 Prozent gestiegen und belegt damit Platz zwei des innerdeutschen Angstindex‘, einen Prozentpunkt mehr bekommen nur die Naturkatastrophen. Die Studie wurde Anfang September veröffentlicht, noch vor der Anschlagsserie vom 13. November mit seinen bürgerkriegsähnlichen Szenarien, die sich kollektiv ins Bewusstsein eingeprägt haben dürften. Später wird klar: Rund 1 000 Besucher waren auf dem Markt, als es gegen 16:15 Uhr laut vernehmbar knallte und eine Rauchsäule aufstieg. Was Besucher und eintreffende Einsatzkräfte zunächst nicht wussten: In einer Bude war eine Propangasflasche explodiert, die Stichflamme hatte diese in Brand gesetzt. Drei Leichtverletzte, so die Bilanz, das Feuer wurde relativ schnell gelöscht.

Augenzeugen berichten, es sei kurz Panik ausgebrochen, Menschen erschreckt losgerannt. Ein junger Polizist, der den Unfallort absichert, schildert auf Nachfrage, den eintreffenden Einsatzkräften sei zwar „bereits ein starker Abstrom entgegen gekommen". Das Wort von einem möglichen Anschlag hätte die Runde gemacht. Panik sei allerdings unter den wegströmenden Menschenmassen nicht zu vernehmen gewesen. „Im Gegenteil, die sind recht ruhig raus“ erzählt er sichtlich irritiert, und schiebt nach: „ein bißchen zu ruhig!“. Man hätte die Leute gar zur Eile antreiben müssen: „Es war ja Glück, dass nicht mehr passiert ist. Da lagerten insgesamt zehn Propangasflaschen“. Nach dem Löschen wurde das Gefahrgut gesichert. Dennoch blieb der Markt eine Stunde geschlossen, unklar ob er an diesem Tag noch einmal öffnen würde. Viel Raum für Spekulationen, Nachfragen seitens Passanten, was denn passiert sei.

Hatten die abstrakten Szenarien, die von Politik und Sicherheitskreisen medial durchexerziert wurden, nicht stets das Gefahrenpotential großer Menschenansammlungen erwähnt? „Weiche Ziele“, wie es im Fachjargon heißt, sind solche, die gerade noch Glühwein schlürften oder Crêpes verspeisten. Rund 2 500 Weihnachtsmärkte mit mehreren tausend Besuchern pro Tag gibt es bundesweit, mehr als die Hälfte liegt Erhebungen des Bundesverbands Deutscher Schausteller und Marktkaufleute zufolge an zentralen, belebten Plätzen der Gemeinden und Innenstädte. Attraktive Ziele für islamistische Terroristen, wenn man so will, in mehrfacher Hinsicht. Wegen der – mehr oder weniger – christlichen Tradition, dem Wirtschafts-, dem Tourismusfaktor. Wegen der Geselligkeit inklusive Alkoholgenusses, Teil der „Dekadenz“ die der sogenannte Islamische Staat explizit am Pariser Nachtleben ins Visier nahm.

Böse Kombination: Explosion - Weihnachtsmarkt

Gegen 16:30 wird der Markt gesperrt. Mehr und mehr Feuerwehrleute und Polizei erscheinen auf dem Gelände. Beim Verlassen des Zugangs ist die Sredzkistraße Ecke Schönhauser Allee von Feuerwehrwagen, Ecke Knaackstraße von Mannschaftswagen der Polizei gesperrt, nonstop rollen weitere Einsatzfahrzeuge von Rettungsdiensten und Feuerwehr mit Blaulicht an, allein in der Sredzkistraße und auf der Schönhauser sind es dreizehn an der Zahl. Ein beunruhigender Anblick. Ein derartiges Großaufgebot für einen einzelnen Budenbrand? „Ja, das hat die Zentrale angeordnet. Wenn um diese Zeit etwas mit Explosion und Weihnachtsmarkt ist, schicken wir zur Sicherheit gleich mehr Wagen“, so der Einsatzleiter der Feuerwehr. Auf Nachfrage präzisiert er „diese Zeit“ mit der Zeit nach den Terrorattacken in Paris. Auch die Einsatzkräfte vor Ort wussten zunächst nicht, was sie erwartet. Nach rund einer Stunde öffnet der Markt schließlich wieder, gegen halb sechs ist er schnell so voll, als wäre nichts gewesen. Dutzende harrten ohnehin vor den Zugängen aus, wollten unbedingt wieder hinein. „In Deutschland hat es eben noch nie geknallt“ meint die französische Begleitung der Autorin die Nonchalance der noch anwesenden Besucher zu deuten, „ihr hattet bislang echt Glück“.

In der Tat, bis auf einen Angriff auf zwei in Deutschland stationierte US-Soldaten vor einigen Jahren gab es in Deutschland bislang keine erfolgreich durchgeführten islamistischen Terroranschläge. In Frankreich war es nach den Attentaten im November mehrfach zu Panik gekommen, mal durch Böller in der Innenstadt von Paris. Mal durch einen heruntergefallenen Feuerlöscher, der die Passagiere zutiefst verunsichert herumfahren lässt, wie neulich in einer Pariser Vorstadt-U-Bahn. Neuer Alltag einer Pariser Freundin, die das erst vor Kurzem so erlebt hat. Da zieht im Vorbeigehen gerade eine Frau ihren Fünfjährigen am Zugang Sredzikstraße und der Polizeiabsperrung vorbei zügig weiter: „Komm, der Weihnachtsmann hat zu!“.

Als die ersten Besuchergruppen auf das Gelände der Kulturbrauerei sind zurückkehren sind noch Diskussionen zu vernehmen. Zwei Budenbetreiber rätseln, ob sie eine Vertragsstrafe kassiert hätten, hätte man das Geschäft für den Rest des Tages ruhen lassen. Es wirkt, als sie wären sie nicht unglücklich gewesen, hätte man ihnen die Entscheidung darüber abgenommen. Eine diffuse Angst bleibt offenbar. „Dass die den Markt jetzt einfach wieder so öffnen, ich find‘s krass!“, empört sich eine Markttenderin, die anonym bleiben möchte, lange und breit. „Das hätte ich nicht zugelassen als Marktleitung – auch aus Respekt vor dem Schutzengel. Es hätte da jetzt echt Tote geben können!“. Die Reaktion mag überzogen wirken – ist doch die Situation längst geklärt, Ursache und damit die Gefahr gebannt. Phantasie und Vorstellung der Frau und der anderen beiden Budenbetreiber aber sind vielleicht längst weiter. Was, wenn doch? Auch wenn es hierzulande noch nicht „geknallt“ hat, der Terror ist schon da, im Kopf angekommen, das ist das eigentlich Beunruhigende. Im Umkehrschluss der Studie und der Besucherreaktionen liegt aber auch Anlass zur Hoffnung: Jeder Zweite hat demnach keine Angst. Will zumindest keine haben, sich keine machen lassen. Sondern einfach Glühwein trinken, genau jetzt, trotz allem. Basta.

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