Verhaftet im Heute: "It was better tomorrow"

Filmkritik Hinde Boujemaa ist mit ihrem Dokumentarfilm ein Lehrstück über die universale Gleichheit subproletarischen Elends gelungen

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Szene aus "It was better tomorrow"
Szene aus "It was better tomorrow"

Bild: Screenshot Trailer

Im Dokumentarfilm It was better tomorrow begleitet Regisseurin Hinde Boujemaa den Alltag einer alleinerziehenden, semi-obdachlosen Tunesierin während des tunesischen Frühlings ab 2011 bis 2012. Doch lehrt darin das Tunesien von ganz unten weniger über gesellschaftspolitische Dynamiken während eines revolutionären Prozesses als vielmehr über die universelle Gleichheit subproletarischen Elends.

Mit einem lautem Knall werden die Kinobesucher_innen aus ihrem loungigen Kinosessel regelrecht hineinkatapultiert in die Eröffnungsszene. Und diese ist, so erfährt man im Laufe des Film, bloß eine alltägliche Alltagsszene aus Sicht der Portraitierten, irgendwo am Rande der Gesellschaft in Tunesien. Eine gewisse Normalität, auch wenn rings um sie herum die alten Strukturen eines autoritären Systems zusammenbrechen und bei vielen die Hoffnung auf ein besseres Morgen aufscheint. Doch eben längst nicht bei allen.

Da sind zum Beispiel Aida, geschiedene und alleinerziehende Mutter und ihr Sohn Faouzi, die dabei sind, mit brachialer Gewalt und dem Mut der Verzweifelten am helligsten Tag und vor laufender Kamera irgendwo in Tunis eine seit Jahren verlassene Wohnung aufzubrechen. Schraubenzieher im Schloss und Schläge mit dem Hammer, Tritte gegen die Tür, erst der Sohn, dann die Mutter. Sie müssen aufgeben, die Türe lässt sich nicht bezwingen, diesmal nicht. Die Geräuschkulisse ist martial – so wie bei jedem entscheidenden Durchbruch, sei es eine gesellschaftliche Revolution oder nur das Aufbrechen einer Wohnung.

Der Dokumentarfilm gönnt kein stilles Eintauchen in eine andere Welt, keinen entspannten, mitunter gönnerhaften westlichen Intellektuellenblick auf die grundlegende Möglichkeit einer Revolution im arabischen Raum. Stattdessen wird man als Zuschauer_in von der ersten Szene an in einer Art voyeuristischer Komplizenschaft mit der brachialen Gewalt gegen Dinge und Personen gefesselt, die ihre Dynamik aus dem darunter wurzelnden sozialen Elend von Menschen bezieht. Als Mutter und Sohn in ihre alte Wohnung – vielmehr eine Baracke, zu der, aus welchen Gründen auch immer, gerade mal wieder der Schlüssel fehlt – zurückkehren, tritt zutage, was hier prägend ist: Frust trifft auf Frust.

Erstmal Kippe und TV an

Aida und Faouzi im Wohnzimmer, das Fernsehgerät singt und flimmert im Hintergrund munter vor sich hin, und füllt so für den Augenblick die Leerstelle und Resignation eines unmöglichen Lebens, die sich auf den Gesichtern von Mutter und Sohn wiederspiegeln. Wieder gescheitert, wieder keine Hoffnung auf Besserung, keine Bleibe, keine Zuversicht. Wie sie da so sitzen, beide mit Kippe in der Hand, sie mit Handy am Ohr, er mit dem Finger stets am Volume-up-Regler des TV, eskaliert die Situation sukzessive. Der Frust bricht sich Bahn und eskaliert schließlich in offener Gewalt, diesmal nicht gemeinsam gegen eine Sache sondern gegeneinander.

Faouzi, so erfahren wir im weiteren Verlauf, verbirgt hinter seiner unterschwellig stets vorhandenen Aggressivität nicht nur eine leichte geistige Behinderung, sondern eine vernarbte Seele, die sich ihm durch seine patriarchal-normative Umwelt als unehelicher „Bastard“ eingeschrieben hat. Die Aggression richtet sich immer wieder in Provokationen gegen die Mutter, die sich ihrer ausweglosen Situation in solchen Momenten nurmehr durch verbale und physische Gewaltausbrüche zu entledigen weiß. Mit der Sprache also derer, die irgendwie keine andere Sprache erfahren haben als Gewalt, strukturell in Form von sozialer Ausgrenzung und Unterdrückung, und in Form patriarchaler Gewalterfahrung im familiären Umfeld, wie man den späteren zutiefst bedrückenden und tränengetränkten Erzählungen von Aida entnehmen wird.

Und so landen die Schläge und Tritte diesmal also auf dem Körper und Kopf des Sohnes, nachdem dieser am TV-Gerät – dem einzig stabilen Moment dieses Alltags neben Ketterauchen und Wahnsinn der drohenden erneuten Obdachlosigkeit – herummanipuliert, die Bitten seiner Mutter nach Ruhe und Rücksicht mit Verbalattacken abschmetternd. Man ahnt es, hier am Rande der Existenz liegen die Nerven immer schon blank und es bedarf bloß noch eines klitzekleinen Tropfens, der das Fass sukzessive aber sicher zum Überlaufen bringen wird.

Willkommen ganz unten

In dieser kleinen Alltagsszene deutet sich auch das gesellschaftliche Große an, in der ein letzter Funke genügt, die Explosion auszulösen. Der arabische Frühling begann in Tunesien mit der symbolischen Selbstverbrennung eines jungen Mannes, der mehr prekär als recht von seinem kleinen Gemüseverkauf leben musste und dessen Alltag von den regelmäßigen Schikanen durch Behörden und Beamte eines autokratischen, korrupten Systems bestimmt war. Einmal war es dann endgültig zu viel und in einem Akt der Verzweiflung, so interpretieren es die tunesischen Zeitzeug_innen, setzt der finale, höchstautoaggressive Akt der öffentlichen Suizidierung ein politisches Zeichen gegen Repression und Verelendung. Mohamed Bouazizi entfachte 2011 am eigenen Leib ein Feuer – und löste damit einen gewaltigen politischen Flächenbrand aus, der über die tunesische Gesellschaftsordnung hinwegrollte und sich noch in die arabischen Anrainerstaaten von Lybien, über Ägypten bis hin nach Syrien ausbreiten sollte.

„Shit head“ und „Bastard“ – so die englischsprachigen Übersetzungen bzw. Untertitelungen des Films (arab. OmU) – schreit dagegen die Mutter, Aida, ihrem eigen Fleisch und Blut entgegen, mit dem sie durch ein schweres Schicksal, so scheint es, auf tragische Weise zu eng verbunden ist. Wenn sie den störrisch-aggressiven Sohn zunächst durchs winzige Zimmer jagt, um dann in einem verzweifelten Stakkato an Schlägen und Tritten – zuletzt gegen seinen Kopf – ihrer Resignation und Erschöpfung Ausdruck zu verleihen, ahnt man schon zu Beginn: diese beiden Leben sind dermaßen von Härte geprägt, dass kein verbaler Stich, kein Tritt zu hart sein kann.

Aber hierin zeigt sich, anders als beim Auslöser der arabischen Revolutionen, keine symbolisch inszenierte Gewalt, kein Zeichen gegen Repression, keine Politisierung. Im Gegenteil, wendet sich die Aggression stets gegen die eigene Person (Kettenrauchen), das eigene kleine soziale Nahfeld oder höchstens gegen unerreichbare Dinge wie verschlossene Wohnungen. Das Besondere daran ist das Normale im Sinne von Regelhaftem, das aus diesen Szenen spricht, sieht man die Umstände mit einem universal-gesellschaftskritischen Blick, der nicht primär nach „kulturellen“ sondern sozialen Unterschieden aber auch Gesetzmäßigkeiten fragt. Die Szenen könnten genauso in der deutschen Sozialplatte oder in einem der heruntergekommenen britischen Council Housings spielen, die im englischen Sozialrealismus à la Ken Loach oftmals dominanter Ausgangs- und Bezugspunkt der Handlungsstränge sind. Außer dass die Häuser und Gassen in Tunis etwas anders aussehen als beispielsweise in sogenannten sozialen Brennpunkten in Deutschland, hat man hier dennoch das Gefühl: so anders, so „fremd“ ist das nicht.

Wo man diese Szenen ungerichteter Aggressionsenthemmung von „Unterschichtlern“ bei Bedarf im privatisierten deutschen Schrott-TV zuhauf zu Infotainment-Zwecken vorgeführt bekommt, verwahrt sich diese Doku gekonnt einer Aufgeregtheit erheischenden Vorführung von Menschen in der Perspektivlosigkeit eines sozial gemachten Elends. Dem voyeuristisch geneigten Auge wird kein Futter dargeboten, Hinde Boujemaa schafft mit ihrem Dokumentarfilm vielmehr die Abbildung einer fremden und zugleich bekannten sozialen Realität, ohne die Protagonist_innen vorzuführen oder bloßzustellen. Der Film bleibt deskriptiv, doch ohne an der Oberfläche zu verharren. Er gibt seinen Figuren Raum, das Erfahrene selbst zu interpretieren und Missstände anzuklagen, aber auch die erfahrene Ungerechtigkeit und Ausweglosigkeit zu thematisieren, das eigene Elend zu betrauern.

Bezogen auf das gesellschaftspolitische Ganze, so wird allerdings auch deutlich, haben sowohl die Wut als auch der unglaubliche Steh-auf-Männchen-Überlebenswille von Aida und Faouzi keinerlei politischen Effekt, sie sind vielmehr, um es mit Bourdieu treffend zu analysieren, Ausdruck eines eingeprägten Lebensstils, mithin also eines bestimmten sozialen Milieus, das vermeintlich individuelle zukünftige Handlungen längst durch sozial erworbene und verinnerlichte Handlungsmuster vorstrukturiert hat. Daraus sprechen jene Muster der gesellschaftlich Stigmatisierten und sozial Marginalisierten, deren Habitus primär durch die paradoxe Gleichzeitigkeit von wütender aber ungerichteter Widerständigkeit gegen, und resignierter Einfügung in die soziale Realität ihres Milieus geprägt scheint. Jenseits eines auch nur annähernd bürgerlichen Lebens geht es längst nicht mehr um Status oder Distinktion, sondern nur noch ums nackte Überleben, irgendwie.

„Ich kann verstehen, wenn sich manche Leute selbst anzünden“

So changieren die Szenen des Films im Wechsel von Mut und Verzweiflung, Trauer, Freude und Wut, lassen unter dem erstickenden Dunst von Zigaretten, Armut und Verzweiflung aber immer wieder auch Momente der Hoffnung, Lebendigkeit und Liebe durchscheinen. Zum Beispiel wenn die Mutter mit all ihren Kindern – drei davon leben aufgrund der schwierigen Lebensverhältnisse in der staatlichen Obhut eines Kinderheims – einen wunderschönen Tag am Meer verbringen und sich erstmals so etwas wie Ausgelassenheit und Frieden abzeichnen. Freilich, die nahende Trennung bedroht auch diese kurzen Momente seltenen Familienglücks.

Obwohl die Welt, in der Aida und ihr Sohn sich gemeinsam durchs Leben schlagen arm an materiellen und immateriellen Ressourcen wie etwa Bildung und sozialer Sicherheit ist, bleibt doch die menschliche Grundkonstante, sich das Grundrecht auf ein Stück Lebensglück zu erkämpfen, stets im Vordergrund des Films. Und zeigt so, dass egal wie stark die sozialen Umstände uns prägen, immer noch genügend Handlungsraum da ist, um am Status Quo etwas zum Positiven hin zu verändern. Um aus der Misere auszubrechen bedarf es, und das zeigt die Doku in der Gänze betrachtet, nicht erst der großen, kollektiv organisierten Bewegung. Im Gegenteil erreicht letztere manche Schichten erst gar nicht oder greift sie nicht auf. Aida selbst greift daher – während andere in den Straßen gegen staatliche Willkür und Repression demonstrieren – schon in der zweiten symbolischen Schlüsselszene wieder zu Hammer und Meißel und hackt mit aller Kraft ihr Glück Stück für Stück aus der hochgezogenen Tür-Einmauerung eines leerstehenden Gebäudes. Wenn eine Gruppe Männer dabei versucht ihrem Treiben Einhalt zu gebieten, schreit und hämmert sie sich den Hass auf das System der sozialen Repression nur umso heftiger und zielstrebiger aus dem Leib. Auch der Geschlechteraspekt kommt hier zum Tragen – wer helfe ihr denn in diesem System der Vetternwirtschaft, noch dazu als alleinerziehende Mutter und Frau in einer männlich dominierten Gesellschaft? Eben. Frau muss selbst Hand anlegen und für sich und die ihren sorgen.

Diese kurzen Momente temporären Glücks und der Erfahrung tätiger Selbsthilfe müssen vom Glück sozialer Absicherung unberührte Menschen wie Aida sich erhalten, sonst wären sie längst tot. Oder wie Aida es an dieser Stelle selbst ausdrückt und dabei politisch den Faden aufnimmt: „Ich kann schon verstehen wenn sich manche Leute selbst anzünden“.

Zufällig zur Revolution

Strukturelle Parallelen oder weitergehende politische Schlüsse zieht sie daraus für sich und ihre Situation aber nicht. Das Besondere am Handlungsmuster der Protagonistin zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. Erfahrene Gewalt und Repression scheinen so verinnerlicht, dass das Bewusstwerden sozialer Ungerechtigkeit regelmäßig dennoch keinen Anlass zu kollektivem, politischen Handeln gibt. Dies wird besonders daran deutlich, wenn Aida mit all ihren Kindern vor dem Ausflug zum Meer auch im Zentrum von Tunis bei der Demonstration quasi mal vorbeischaut und von hinter den aufgestellten Pappfiguren von „Revolutionären“ – gleich einer Fremden, oder einer Touristin im eigenen Land – hindurch auf die Masse an Menschen dahinter späht, die in lauten Sprechchören das Ende der sozialen Ungerechtigkeit und dieses Systems anrufen. Obwohl diese Menschen da auf der Straße für ihre aller Sache kämpfen – der Beginn der tunesischen Revolution stand noch ganz unter dem Motto „Brot und Würde“ für alle – gehört sie irgendwie doch nicht dazu.

Wenn ihr Sohn in der nächsten Aufblende mit anderen Kindern und Jugendlichen auf der Mauer eines Gebäudes steht und laut die kraftvollen Parolen aus Leibeskräften in die Kamera mitbrüllt, spürt man irgendwie doch, dass ihn der Inhalt höchstens abstrakt berührt. Motivation scheint vielmehr zu sein, für einen kurzen Moment die eigene beschwerte Existenz im Aufgehen in etwas Größerem vergessen zu können. Ansonsten sind er und seine Mutter stets Einzelkämper_innen.

Dennoch ist die zentrale Figur dieses Dramas, Aida, nicht unpolitisch im eigentlichen Sinn. Als sie sich, kurz nachdem ihr Sohn aus dem Knast kommt wegen seiner „Kleptomanie“, selbst in einem solchen findet, resümmiert sie mit den anderen Insassinnen über das Politische ihrer Situation. Sie allesamt sitzen ein, beschuldigt wahlweise der Prostitution, des Diebstahls oder Drogenmissbrauchs. Der eigentliche Grund scheint wohl wie in allen anderen sozialrepressiven Gesellschaften eher der zu sein, das Elend von der Straße weg in einen „sicher“ verwahrten Ort zu holen. Denn die willkürlichen Durchsuchungen der Polizei hätten bei keiner der Anwesenden irgendein objektives Indiz für eine der vorgeworfenen Straftaten zutage fördern können, es ist eher das, was man mit Leuten „wie uns“ macht. So bleiben die Erkenntnisse, dass die eigene Situation sozial und politisch gemacht ist, nicht unbewusst. Sie verharren jedoch zugleich im unbestimmt-Vorbewussten, dass irgendetwas nicht stimmen kann an der eigenen Situation. Woraus sich, und das gilt für alle unteren sozialen Schichten gleich welcher Kultur, allerdings noch lange keine politischen Handlungsoptionen quasi automatisch ergeben.

Damit zeichnet It was better tomorrow insgesamt eine treffende Milieustudie, bei der es gar nicht unbedingt darauf ankommt, dass er in einer arabisch geprägten Gesellschaft in einer Phase der Transformation forscht, sondern in einer arabisch geprägten Gesellschaft in einer Phase der Transformation aus der Perspektive von ganz unten – und damit aus der Perspektive noch nicht politisierter potentieller Aktivist_innen. Und deren Situation des Ganzunten scheint überall vergleichbar beschissen zu sein.

Der Dokumentarfilm It was better tomorrow wurde im Rahmen des 5. Arabischen Filmfestivals „Alfilm“ Berlin gezeigt, welches noch bis zum 26.03.2014 weitere Perlen des arabisch(sprachig)en Doku-, Spiel- und Experimentalfilms zeigt – Unbedingt hingehen!

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