Gefängnis und Geschlecht Gemeinhin hat sich die Gleichung "Gewalt ist männlich" durchgesetzt. So einfach ist die Sache aber nicht. Einblicke in Lebensentwürfe inhaftierter Jugendlicher
In Spike Lees Film 25 Stunden, zwingt der Hauptdarsteller einen seiner besten Freunde, ihm am Morgen seiner bevorstehenden Inhaftierung das Gesicht zu zerschlagen. Er hofft, solcherart entstellt, sexuellen Übergriffen im Gefängnis zu entgehen. Die Szene enthält verschiedene, auch paradoxe Botschaften über Männlichkeit und die Beziehung zwischen Gewalt und Geschlecht: Ein Gewaltakt dient hier dem Schutz von gefährdeter Männlichkeit, und die Verletzung des männlichen Körpers wird zugleich als Garantie für dessen Unverletzlichkeit dargestellt.
Die Filmszene verdeutlicht, wie sehr die Bedeutung von Männlichkeit durch verschiedene soziale Kontexte hindurch changiert: Wer außerhalb des Gefängnisses als schöner und erfolgreiche
und erfolgreicher Mann gilt, kann im Gefängnis zum unmännlichen Opfer von Gewalt werden. Entsprechend dieser wechselnden Bedeutungen ist auch das Verhältnis zwischen Gewalt und Geschlecht nicht eindeutig. Männlichkeit und Gewalt sind keine fixen Größen, die einander bedingen und bestimmen. Sie sind vielmehr kontextabhängige Erscheinungen, die auf sehr widersprüchliche Weise miteinander in Beziehung treten.Männlichkeit im geschlossenen RaumIm Rahmen der Studie Gefängnis und die Folgen, die seit 1997 am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen läuft, haben wir biographische Interviews mit Männern im Jugendstrafvollzug geführt. Wir konnten mit über 40 heranwachsenden Männern über ihre Eindrücke in drei verschiedenen Haftanstalten und über ihre Lebensgeschichten sprechen. Die ausführlichen Erzählungen geben Aufschluss über ihre Sicht auf das Gefängnis und ihre Umgangsformen miteinander. Darüber hinaus erfahren wir etwas über ihre Selbstbilder und künftigen Orientierungen.Was die Interaktionsrituale zwischen Inhaftierten im Gefängnis angeht, lassen sie sich, ähnlich wie die Filmszene, als Inszenierungen von Männlichkeit untersuchen. Der geschlossene Rahmen des Gefängnisses und das damit verbundene hohe Maß an sozialer Kontrolle provozieren kontextabhängige kollektive Handlungsmuster. Der soziale Sinn dieser Handlungsmuster bleibt aber nicht auf das Gefängnis beschränkt. Ganz im Gegenteil: Unter den Bedingungen von Geschlossenheit spitzen sich Geschlechterarrangements weiter zu, die auch außerhalb dieses Rahmens gültig sind. Härte, Unverletzlichkeit, Coolness und Ehre sind Standards, an denen sich alle Inhaftierten messen müssen. Der Unterschied zwischen Männlichkeitsklischees innerhalb und außerhalb einer geschlossenen Institution besteht weniger in den Inhalten, als vielmehr darin, dass die geschlossene Institution kein Ausweichen in Kontexte erlaubt, in denen andere oder mehr Bilder zur Verfügung stehen. Hinzu kommt, dass die idealisierte Hypermaskulinität im Gefängnis alltäglichen Kämpfen unterliegt und dadurch immer weiter zugespitzt wird. Einer der Inhaftierten sagt: "Ich bin hier reingekommen und hatte auch Schiss. Hab das nicht so gezeigt. Ich bin, ich hab gedacht Ach was soll´s. Hier drin ist´s genauso wie draußen". Verschiedene Aussagen der Inhaftierten zu Selbstbehauptung und Selbstgefährdung in der Gruppe lassen sich auf einen Nenner bringen: Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung mit einer Rangordnung zwischen jungen Männern. Gewalt ist dabei ein zentrales Mittel, diese Ordnung herzustellen und zusammenzuhalten. Die Bedeutung, die Geschlecht in dem Zusammenhang von Rangordnung und Gewalt hat, wurde in älteren Arbeiten zum Gefängnis zwar gestreift, systematischer allerdings erst in Arbeiten der neueren Männerforschung in den Blick gerückt. Entsprechend lassen sich die Interaktionsrituale der Gefangenen als eine Form von "doing masculinity" untersuchen, wie der US-amerikanische Soziologe James W. Messerschmidt dies vorschlägt. Der Einsatz von Gewalt stellt demnach ein Mittel dar, eine Ressource, um Männlichkeit interaktiv herzustellen. Dies gilt laut Messerschmidt besonders für soziale Kontexte, in denen (jungen) Männern keine anderen Ressourcen zur Verfügung stehen, um ihre Männlichkeit sozial abzusichern. Eine Definition von Gewalt als "Männlichkeitsressource" setzt jedoch bei der Vorstellung an, Gewalt sei eine lebenslagenspezifische Handlungsstrategie junger Männer, und das gelte umso mehr für sozial Benachteiligte und straffällig gewordene Personen. Das passt zu populären Aussagen wie "Gewalt ist männlich", "Jugendgewalt ist Jungengewalt" oder "Gewalt ist ein Mittel zur Bewerkstelligung von Geschlecht". Aber ist die Sache wirklich so einfach? So griffig diese Formeln und so fortschrittlich sie darin sind, "Geschlecht" nicht länger mit "Frau" zu übersetzen, so sehr greift die magische Gleichung zwischen Marginalisierung, Männlichkeit und Gewalt zu kurz und lässt entscheidende Fragen offen. Biografisch angeeignetes Geschlecht Diese Fragen drehen sich um die genauere Bestimmung eines komplexen Phänomens wie Geschlecht. Was ist eigentlich mit Männlichkeit gemeint, wenn auf die gewaltbereiten Selbstinszenierungen junger Männer geblickt wird? Ist es etwa das, was Jungen und Männer tun? Wir brauchen eine differenzierte Konzeption von Geschlecht. Sie sollte erlauben, zwischen dem Handeln von Frauen und Männern und kulturellen Stereotypien von Weiblichkeit und Männlichkeit zu unterscheiden. Wird diese Unterscheidung zwischen wirklichem Handeln und dem Stereotyp ernst genommen, löst sich die direkte Verbindung zwischen Männlichkeit und Gewalt auf, und die unterschiedlichen Handlungsweisen von Männern, auch wenn sie in ähnlichen sozialen Positionen und Kontexten agieren, rücken in den Blick.Diese Perspektive führt zur Frage nach der lebensgeschichtlichen Aneignung von Geschlecht. Dabei wird deutlich, dass die Selbstdefinition als "männlich" oder "weiblich" niemals heißt, gesellschaftliche Identitätsangebote einfach nur zu übernehmen. So führt auch soziale Benachteiligung nicht zur ungebrochenen Aneignung kollektiver Männlichkeitsentwürfe durch den Einzelnen. Ganz im Gegenteil: Die lebensgeschichtliche Aneignung von Geschlecht unterliegt widersprüchlichen und gegensinnigen Einflüssen, auf die von Seiten der Subjekte konflikthaft und mit sehr gemischten Gefühlen reagiert wird. Wenn man vor diesem Hintergrund nach der Beziehung zwischen Gewalt und Geschlecht fragt, verschiebt sich der Blickwinkel. Auch wenn es auf der Handlungsebene Sinn macht, dass die Auseinandersetzungen der jungen Männer im Gefängnis der Konstruktion und Reproduktion von gewaltnaher Männlichkeit dienen - im biographischen Kontext wird diese direkte Beziehung fragwürdig. Diese Behauptung lässt sich an zwei biografischen Beispielen konkretisieren.Thomas und RolfDer 18-jährige Thomas, der in einer westdeutschen Vollzugsanstalt inhaftiert ist, beansprucht Gewalt ganz selbstverständlich als eine legitime Ressource der Selbstverteidigung. Er sagt: "Also wenn mich jemand schlägt, muss ich zurückschlagen... wenn es mit Worten nicht mehr zu regeln ist, wenn ich merke, er will den ersten Schlag machen, dann muss ich mich wehren." Thomas lässt keinen Zweifel daran, dass er Gewalt aktiv einzusetzen bereit ist, auch was seine Zeit vor der Inhaftierung angeht. Im Mittelpunkt seines Handlungsmusters steht die Verteidigung seiner Ehre, vor allem aber die seiner Familie. Auf der Ebene kultureller Männlichkeitsideale entspricht eine solche Selbstdarstellung dem Bild des hart gesottenen und unbesiegbaren Einzelkämpfers, der auf patriarchal anmutende Konstrukte zurückgreift, um seinen Status zu sichern. "Für mich war´s eigentlich immer nur der Grund Besiegen. Wenn ich dann trotzdem verloren hab, dann war´s halt so, als wenn ich gespielt hab, aber verloren hab. Also die Wunden, wenn ich ´n blaues Auge hatte oder Nasen gebrochen oder irgendwas, das war für mich unwichtig."Dieses Männlichkeitsideal wird jedoch von einem gegenläufigen Motiv durchkreuzt. Es ist Thomas´ intensiver Wunsch, die längst zerbrochenen Familienbeziehungen seiner Kindheit zu rekonstruieren. Das Ideal der männlichen Ehre ist somit an den Wunsch nach einem emotionalen Anerkennungszusammenhang gebunden. Die Verteidigung der Familienehre gegen den Spott anderer Inhaftierter und gegen Institutionen wie Gefängnis oder Schule löst sich von ihrer manifesten Bedeutung als Männlichkeitsbeweis. Die eindeutige Beziehung zwischen Männlichkeit und Gewalt tritt hinter einen biographischen Konflikt zurück, in dem Gewalt in ihrer tieferen Bedeutung auf die Rekonstruktion kindlicher Wünsche und weniger auf die Konstruktion von Männlichkeit zielt.Im Gegensatz zu Thomas lehnt der 21-jährige Rolf, der in der gleichen Institution inhaftiert ist, Gewalt im Gefängnis strikt ab. Er tritt als vernünftiger und redegewandter Akteur auf und betont, wie sehr er Diskutieren gegenüber Schlagen bevorzugt. Dabei strebt er nach einem Leben als unabhängiger und kluger Mann und sieht seine Inhaftierung als letzte Chance, mit seinen bisherigen Lebensgewohnheiten zu brechen. Vor diesem Hintergrund grenzt er sich scharf von anderen Gefangenen ab und beansprucht absolute Handlungsautonomie, auch in der geschlossenen Institution. Dafür nimmt er auch in Kauf, selbst als Opfer aus einem Konflikt hervorzugehen, was er nachträglich als Überlegenheit gegenüber einem anderen Gefangenen deutet: "Er kam nicht damit klar, wie ich mit ihm gesprochen hab. Er konnte da nicht mithalten, musste also wieder rohe Gewalt anwenden." Die biografische Bedeutung seiner strikten Abstinenz gegenüber Gewalt, verbunden mit absoluter Unabhängigkeit von anderen, erschließt sich im Kontext einer enormen lebensgeschichtlichen Wechselhaftigkeit: Rolf hat eine hohe Dichte von Interventionen sozialer Hilfe und Kontrolle erfahren, Gewalterfahrungen als Opfer wie Täter, Drogenabhängigkeit und kontinuierliche Bindungslosigkeit - diese Phänomene strukturieren seine biographische Erzählung. Sie stellen die Kehrseite seines starken Autonomieideals im Gefängnis dar. Rolf setzt dem Ideal des gewaltbereiten Kämpfers ein ebenso einseitiges Ideal entgegen: das des absolut handlungsautonomen Individuums. Diese Orientierung an einem bürgerlich konnotierten Männlichkeitsideal deutet ebenso auf einen latenten biographischen Konflikt wie das Motiv der Ehre bei Thomas.So verschieden die Fälle von Thomas, dem Kämpfer für Familienehre, und Rolf, dem Gewaltverweigerer, sind, im Licht lebensgeschichtlicher Konflikte wird eine latente Verwandtschaft sichtbar. Die Bedeutung, die die beiden jungen Männer Gewalt zuschreiben, weist über die Männlichkeitsrituale im Gefängnis hinaus auf ungelöste Fragen von (Handlungs-)Autonomie. Während Thomas ein rückwärtsgewandtes Bedürfnis nach familiärer Bindung verteidigt und um jeden Preis bewahren möchte, präferiert Rolf Autonomie ohne Bindung. Beides sind Schieflagen, bei denen Autonomie sich in die eine oder andere Richtung überdehnt.Gegen StereotypeDie skizzierten Fallbeispiele verweisen darauf, dass die scheinbar eindeutige Beziehung zwischen Männlichkeit und Gewalt einen tief greifenden Männlichkeitskonflikt verdeckt: den anhaltenden Kampf um Autonomie, wobei Autonomie unter den Bedingungen gesellschaftlicher Modernisierung, gerade auch von Geschlechterverhältnissen, nicht mehr ungebrochen mit Männlichkeit übersetzt wird.Ein differenzierterer Blick auf die Beziehung zwischen Gewalt und Männlichkeit macht auch Kritik möglich an den gesellschaftliche Antworten auf die Konflikte junger Männer und deren anhaltenden Rückgriff auf Stereotype von Männlichkeit und Geschlechterdifferenz. So gibt es beispielsweise Anti-Aggressionstrainings, in denen gewaltbereite Adoleszente zu "Friedenskriegern" trainiert werden sollen. Solche Ansätze entschärfen lediglich die kulturellen Leitbilder von Männlichkeit, bleiben ihnen in ihren Kernaussagen aber treu. Noch weniger wird das männlich konnotierte Ideal der Selbstkontrolle hinterfragt - ein Autonomieideal, das auf den vernünftigen Mann zielt, der alle Konflikte cool denkend löst und letztlich mit sich selbst abzumachen hat. Die latenten Konflikte junger Männer werden so höchstens übertüncht und ihre Identifikation mit harter Männlichkeit wird nicht hinterfragt. Eine Reaktion auf ihre Autonomiekonflikte würde voraussetzen, den biographischen Sinn ihres Handelns zu verstehen und dabei die Frage nach der Bedeutung von Gewalt und nach ihren Männlichkeitsentwürfen konsequent offen zu halten. Eine solche Haltung führt zugegebenermaßen nicht zu spektakulären Erfolgen im Bereich der Gewaltprävention oder zu Handlungsrezepten, die eine rasante Veränderung von Geschlechterverhältnissen versprechen. Sie entspricht aber der Erkenntnis, dass die subjektive Aneignung von Geschlecht einer eigensinnigen Logik folgt, auf die zu antworten entsprechend langwierig ist. Es gibt keinen Grund, hinter diesen Erkenntnisgewinn der Frauen- und Geschlechterforschung zurückzufallen, nur weil wir es mit jungen Männern zu tun haben, deren Handlungsorientierungen uns nicht nur provozieren, sondern mit grundlegenden gesellschaftlichen Integrationskonflikten konfrontieren.Mechthild Bereswill ist Sozialwissenschaftlerin und lehrt zur Zeit als Gastprofessorin am Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der Fachhochschule Hildesheim. Seit mehreren Jahren ist sie Mitarbeiterin am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (www.kfn.de). Zum Thema Gewalt und Geschlecht hat sie mehrere Aufsätze veröffentlicht, unter anderem Gewalt als männliche Ressource? in: Lamnek, Siegfried und Manuela Boatca (Hg.): Geschlecht Gewalt Gesellschaft. Opladen, 2003.
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