Rendite für alle

Deutschland Die Wirtschaft wächst, die Kassen sind voll: der beste Zeitpunkt für eine neue, gerechte Politik
Ausgabe 04/2018

Die Konjunktur brummt. Das Bruttoinlandsprodukt ist in Deutschland 2017 um 2,2 Prozent gestiegen und hat damit viele Wachstumsprognosen, auch die der Bundesregierung, übertroffen. Auch auf dem Arbeitsmarkt sieht es so gut aus wie schon lange nicht mehr, die Inflation ist scheinbar gering. Unternehmen realisieren Gewinne, der DAX erreicht neue Höchststände. Die öffentlichen Haushalte melden rasante Einnahmeentwicklungen. Die Exportwirtschaft verkündet trotz Abgasskandals weltweit beachtete Erfolge. Das ist Deutschland 2018.

Wirtschaftswachstum heißt derzeit vor allem mehr Rendite für Unternehmen und Überschüsse für die öffentlichen Haushalte. Die Reallohnzuwächse fallen dagegen nach wie vor eher bescheiden aus. Wohnungsnot, Probleme im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitssektor sind Dauerbaustellen, die weitreichende Konsequenzen für die Lebensgestaltung der Menschen haben. Armutsfallen, zunehmende Prekarisierung und Kinder- sowie Altersarmut bei beachtlichem Bruttoinlandsprodukt: Auch das ist Deutschland 2018. Permanent wird in diesem Land mehr produziert als gebraucht. Wirtschaften ist jedoch nicht nur Produktion. Es geht auch darum, wie das Produzierte aufgeteilt wird. Und an dieser Stelle bleibt Deutschland 2018 weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Geld ist da – die Wirtschaftslage lässt erkennen, dass eine aktive Sozialpolitik und Umverteilung durchaus zu finanzieren wäre. Das sind wichtige Themen, die im Karl-Marx-Jahr unbedingt auf die gesellschaftspolitische Tagesordnung gehören.

Die Zeiten sind vorbei, in denen Wirtschaft etwas Privates war. Wirtschaft ist gesellschaftliche Verantwortung. Fast niemand versteht mehr, was daran in der Vergangenheit so schwer zu begreifen war. Wirtschaftspolitik ist immer da gefragt, wo der Markt versagt. Das steht sogar in jedem neoliberalen Lehrbuch der Wirtschaftswissenschaften. Selten thematisiert wird dagegen, dass in unserer globalisierten Welt das Marktversagen eigentlich den Normalzustand darstellt. Funktionierende Märkte ohne Oligopole lassen sich heute kaum noch finden.

Versucht’s mal mit Verteilung

Vor diesem Hintergrund ist die gute alte Ordnungspolitik gefordert. Die heißt heute gern Institutionenökonomik. Sie kostet den Staat kaum Geld, hat aber, wenn sie gut gemacht ist, eine herausragende Wirkung. Vom Staat gesetzte Spielregeln werden an Bedeutung gewinnen müssen. Um sie indes durchzusetzen, bedarf es eines schlagkräftigen Staates. Die jahrelange Ausdünnung des öffentlichen Sektors hat hier eine Verödung hinterlassen, die inzwischen sehr teuer zu stehen kommt. Der Ist-Zustand kann so nicht fortgeschrieben werden, ohne dass die Zukunftsfähigkeit aufs Spiel gesetzt wird. Der Investitionsbedarf in die bröselnde öffentliche Infrastruktur ist unübersehbar. Keine Regierung wird daran vorbeikommen, den öffentlichen Sektor zu stärken.

Auf dem Arbeitsmarkt brodelt es schon lange. Arbeitsmarkt ist mehr als Lohnfindung. Warum führt Wirtschaftswachstum nicht zu Lebensqualität und Freiheit für alle? Warum nur führt dieses Wachstum zu immer mehr Stress? Warum nicht zu Entlastung und Stabilität? Warum haben wir immer noch einen beachtlichen Gender-Pay-Gap? Warum versuchen wir es nicht einfach einmal anders? Jahrelang war behauptet worden, dass ein Mindestlohn die Wirtschaft bremse. Diese unbewiesene These wurde mantramäßig von Menschen wiederholt, die selbst nie vom Mindestlohn betroffen sein würden. Das hatte fatale Folgen für viele abhängig Beschäftigte. Die gesellschaftliche Spaltung wurde vorangetrieben.

Als nach der Einführung der Lohnuntergrenze rasch klar war, dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nicht vom Mindestlohn abhängt, sondern dieser die inländische Nachfrage stützt, hat sich niemand entschuldigt. Kräftige Lohnzuwächse könnten hilfreich sein, das Wirtschaftswachstum auch bei breiteren Bevölkerungskreisen ankommen zu lassen.

Aktuell ginge es darum, eine einseitig auf Kapitalinteressen gerichtete Flexibilisierung der Arbeitswelt zu unterbinden. Politik darf sich nicht wegducken, wenn es um Gesellschaftsgestaltung geht. Das gilt auch bei der Vermögensverteilung, die immer schiefer wird. Warum nicht ein bisschen träumen, von einer Gesellschaft, in der es vielen gut geht?

Aber nicht nur in Deutschland, sondern auch in der EU stehen die Zeichen auf gesamtwirtschaftliche Erholung bei gleichzeitig ungelösten verteilungspolitischen Problemen. Unternehmen wissen, was sie optimieren – es ist ihre Rendite. Öffentliche Haushalte fokussieren sich auf die Defizitbegrenzung und dazwischen stehen faktisch staunend die Bürgerinnen und Bürger, die es schwer haben, ihre Wünsche ähnlich prononciert zu äußern. Ein starrer Haushaltsplan in den Finanzministerien lässt kaum sozialpolitische Pläne und schon gar keine Träume zu. Dringend muss die Politik zum verteilungspolitischen Anwalt der Menschen werden, sonst steht sie EU-weit auf einem verlorenen Posten.

Signale aus Berlin sind wichtig für die Spielregeln in der EU und der Eurozone. Die Welt ist in den letzten Jahren komplexer geworden. Die Zeiten sind mit Sicherheit vorbei, wo allein durch nationalen Wettbewerb mehr Wohlstand generiert werden konnte. Ein Europa, in dem alle Länder durch Niedriglöhne und Prekarisierung ihre Wettbewerbsposition verbessern wollen, bietet den Menschen eine soziale Abwärtsspirale und wenig Zukunft. Heute muss es um eine nachhaltige Zukunftsgestaltung durch Kooperation und Solidarität gehen. Die EU steht vor der Frage: Vertiefung oder Verfall? Der Brexit macht klar, wie fragil das Gefüge ist. Deutschland ist ein großer Profiteur der EU. Eine neue Bundesregierung wird hier klare Akzente zugunsten einer vertieften Zusammenarbeit setzen müssen.

Zunehmend jedoch steht der deutsche Leistungsbilanzüberschuss nicht nur in der Eurozone oder der EU, sondern sogar weltweit in der Kritik. Tatsächlich lässt er sich nicht einfach wegregulieren. Die verteilungsorientierte Stärkung der Binnennachfrage indes könnte hier limitierend wirken. Eine aktive Umverteilung hätte somit nicht nur Konsequenzen für die heimische Wirtschaft, sondern wäre auch international gewünscht. Das ist eine historische Chance für mehr Gerechtigkeit. Die soziale Marktwirtschaft ist eine leistungsfähige Wirtschaftsform. Gute Politik würde sich nicht mit sich selbst beschäftigen, sondern Veränderung gestalten.

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