Die Möglichkeiten der Gentechnologie scheinen derzeit so manches Männerhirn - ob Philosoph oder Schriftsteller - zu verwirren. Verständlich ist ihre Aufregung, wenn man bedenkt, dass die Fortpflanzung unter Umständen ganz ohne sie möglich ist und "der Mann zu so gut wie nichts mehr gut ist", wie Michel Houellebecq in einem seiner Essays ironisch konstatiert. Niemand fühlt sich in essentiellen Dingen gerne überflüssig und Männer schon gar nicht. Also bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Feuilletons und vor allem deren Leser mit ihren geistigen Ergüssen zu befruchten. Dabei ist ihnen der Erfolg sicher, denn nichts liebt der Kulturbetrieb so sehr, wie die mit Sensationen angereicherte Provokation. Dieses Geschäft versteht das derzeitige "enfant terrible" der Pariser Kulturszene meisterhaft. Sein letzter Roman Die Elementarteilchen hat in Frankreich für einige Aufregung gesorgt, da er als Apologie totalitären, rassistischen und frauenfeindlichen Gedankenguts gelesen werden kann. Der Roman ist wirklich ein harter Brocken. Abstoßend und faszinierend zugleich. Houellebecq versteht sein schriftstellerisches Handwerk, das muss man ihm lassen. Immerhin hat er in Frankreich für seinen umstrittenen Roman den "Prix Novembre" erhalten. Er hat sich allerdings auch ein dankbares Thema gewählt: es geht um nichts weniger, als die Abrechnung mit der westlichen Zivilisation, den Abgesang auf das 20. Jahrhundert. Literarische Vorbilder sind ganz offensichtlich Bret Easton Ellis und dessen Roman American Psycho, mit dem er die zynische Beschreibung der hedonistischen, gewalttätigen Gesellschaft teilt. Da bleibt kein Auge trocken, kein Klischee wird ausgelassen.
Houellebecq erzählt die Geschichte zweier Halbbrüder, Bruno und Michel, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts leben und die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während sich Michels soziale Kompetenz in der Kommunikation mit seinem Kanarienvogel erschöpft, sind Brunos Außenkontakte von seiner verkorksten Sexualität bestimmt. "Das Hauptziel seines Lebens war sexueller Art gewesen; sich ein anderes Ziel zu setzen war nicht mehr möglich, das wuss te er jetzt. Darin war Bruno charakteristisch für seine Epoche." Michel arbeitet als erfolgreicher Molekularbiologe, Bruno ist Französischlehrer. Beide sind liebesunfähige Monster. Schuld daran sind die mit ihrer Selbstverwirklichung beschäftigten egoistischen Eltern, die ihre Kinder derweil den Großeltern überlassen. Die tieferliegenden Ursachen für dieses Versagen sind schnell ausgemacht. Ihre "libidinal-hedonistische Haltung nordamerikanischen Ursprungs" ist es, die zur "Zerstörung der jüdisch-christlich geprägten moralischen Werte" geführt haben. Es scheint fast, als habe Houellebecq alte Rechnungen zu begleichen, so verbissen rechnet er mit den Altachtundsechzigern ab. Sein besondere Haß gilt emanzipierten Frauen, die durchgängig nur als "Schlampen" bezeichnet werden. Die Opferbereiten stilisiert er dagegen zu Heiligen, deren Liebe sich in Hingabe und frühem Tod erschöpft. Seine Empörung über den allgemeinen Sittenverfall könnte aus der Feder des Papstes stammen. Die Einführung der Pille, die Legalisierung der Abtreibung und die Erleichterung der Scheidung werden für den desolaten Zustand der Gesellschaft verantwortlich gemacht. Das Gefährliche an seinem Text liegt darin, dass seiner zum Teil durchaus gerechtfertigten Kritik an der rein materialistisch orientierten Welt falsche Analysen zugrundeliegen. Er vereinfacht die Dinge, um sie ideologisch zu nutzen. So werden die demokratischen Errungenschaften der antiautoritären Bewegungen kurzerhand negiert und Abtreibung mit Euthanasie gleichgesetzt. Die von ihm als Karikatur beschriebenen Exzesse der Selbsterfahrungsgruppen, der Rückzug und die übertriebene Konzentration auf das eigene Ich sind sicher negative Begleiterscheinungen einer permissiven Gesellschaft. Doch als Reaktion auf die lange Zeit vorherrschende autoritäre Kultur sind sie durchaus verständlich. Mit unbarmherziger Präzision beschreibt Houellebecq die Defizite unserer ganz auf Äußerlichkeiten und schnellebigen Lustgewinn fixierten oberflächlichen Gesellschaft. Seine Erklärungen geraten manchmal allerdings grotesk. Die wachsende Gewalttätigkeit, wie sie sich zum Beispiel in den Ritualmorden satanischer Sekten äußert, wird als logische Konsequenz und direktes Ergebnis der sexuellen Revolution ausgegeben: "Nachdem sie die Möglichkeiten der sexuellen Befriedigung ausgeschöpft hatten, war es völlig normal, dass die Individuen, die sich von den üblichen moralischen Zwängen befreit hatten, sich der umfassenden Befriedigung grausamer Instinkte zuwanden... In dieser Hinsicht waren die serial killers der neunziger Jahre die Nachfahren der Hippies." Im Gegensatz zu Bruno, der sein Unglück eher stumpfsinnig erleidet und am Ende in der Psychiatrie landet, wird Michel von Houellebecq mit dem Wissen und der Kraft des Erlösers ausgestattet. Er ist der Vorläufer einer "neuen Ordnung", seine Forschungen bilden die Grundlagen für die "metaphysischen Wandlungen", die radikalen, globalen gesellschaftlichen Veränderungen, "die in der Produktion einer neuen, geschlechtslosen, unsterblichen Spezies" liegen werden. In Houellebecqs Welt hat die Materie schon lange über den Geist gesiegt. "Die Wandlung findet nicht im Geist statt, sondern in den Genen." Der Mensch ist von Natur aus böse, das Verhalten ist determiniert wie jedes andere natürliche System. Individualismus, Selbstbestimmung, Freiheit und damit "das Bedürfnis, sich von anderen zu unterscheiden und sich ihnen überlegen zu fühlen" führen zur Konkurrenz, zum Kampf und bringen Eitelkeit, Haß und Begierde mit sich. Die Rettung des Menschen kann nur in der genetischen Kontrolle und damit der Artenverbesserung liegen.
Nicht erst an dieser Stelle fragt sich der Leser plötzlich, ob vielleicht alles nur auf einem furchtbaren Mißverständnis beruht? Ob all die dummen Sätze, besser noch, der ganze Text einfach nur als Ironie zu verstehen sind? Diese Zweifel bestätigen sich bei der Lektüre der zeitgleich erschienenen Sammlung kürzerer Texte und Interviews von Houellebecq mit dem programmatischen Titel Die Welt als Supermarkt. Sie bieten nichts Neues, gefallen sich im coolen Gestus der Allwissenheit und pessimistischen Weltsicht. Zu der fast pubertär anmutenden Selbstgefälligkeit gehört auch der respektlose Umgang mit literarischen "Autoritäten", wie er bereits im Titel "Jacques Prévert ist ein Arschloch" anklingt. Provokation allein reicht jedoch nicht aus, auch wenn der Erfolg Houellebecqs diesen Eindruck entstehen läßt. Unklar bleibt bis zuletzt, ob hier ein "Moralist" seine Kritik am Zustand der Welt lediglich in eine besonders provokative Form packt, um den Leser damit aufzurütteln. Der Extremismus der vorgetragenen Positionen, die Absolutheit des moralischen Anspruchs und das Erlöserpathos zeugen jedoch eher von einem unmoralischen Denken, das totalitäre Lösungen für die komplexen gesellschaftlichen Probleme bereithält.
Michel Houellebecq: Elementarteilchen. Roman. Aus dem Französischen von Uli Wittmann, Dumont-Verlag, Köln 1999. 357 S., 44.- DM
Michel Houellebecq: Die Welt als Supermarkt. Interventionen. Aus dem Französischen von Hella Faust, Dumont-Verlag, Köln 1999, 98 S., 29, 80 DM
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