Mit seinem Roman Ausweitung der Kampfzone landete der 1958 geborene französische Autor Michel Houellebecq gleich einen Volltreffer. Die krude Beschreibung einer sinnentleerten Durchschnittsexistenz der 90er Jahre brachte ihm 1995 unter anderem den »Prix Flore« für den besten Erstlingsroman ein. Doch an seiner Prosa scheiden sich die Geister. Während die einen seine Sprachgewalt preisen und ihn mit Céline vergleichen, lehnen die anderen seine pornographisch durchtränkten, nihilistischen Weltdeutungen als fragwürdige Platitüden ab. Zur allgemeinen Überraschung wurde sein zweiter Roman Les particules élémentaires (Die Elementarteilchen) im vergangenen Herbst nicht mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet, was einige seiner Fans aus der Zunft der Literaturkritiker polemisch als politisch-korrekten Rückzieher der Goncourt-Jury deuteten, die sich - wie sie meinten - nicht den unbequemen Wahrheiten eines unkonventionellen Werkes stellen wollten. Das Handwerk des »agent provocateur« versteht Houellebecq in der Tat meisterhaft, doch überschreitet er dabei mitunter auch die Grenzen des guten Geschmacks. Niemand bleibt von seinem beißenden Spott verschont. Vor allem die in die Jahre gekommenen 68er und andere Weltverbesserer bekommen ihr Fett ab. In Houellebecqs post-ideologischem Weltbild gibt es keine Tabus. Einige mißverständliche Aussagen, die als Legitimation eugenischen und rassistischen Gedankenguts verstanden werden können, haben für Aufregung in den Feuilletons der französischen Zeitungen gesorgt. Durch diesen Rummel wurde seinem Werk eine Aufmerksamkeit zuteil, die es womöglich gar nicht verdient.
Doch davon können sich die deutschen Leser nun anhand der - leider an manchen Stellen etwas hölzernen - Übersetzung des Romans Ausweitung der Kampfzone selbst ein Bild machen. Der martialisch gehaltene Titel deutet es bereits an: hier wird keine schöne Geschichte erzählt. Dabei ist das Thema weder neu noch besonders originell: die Leser werden mit der Frage nach dem Sinn des Lebens konfrontiert. Einsamkeit und Trostlosigkeit bestimmen die Existenz des 30jährigen Protagonisten, eines Computerfachmanns, der das Leben verabscheut. Zigarettenrauchen ist das einzige, was er aus voller Überzeugung tut. Dieser unbehauste Außenseiter, der in den Fußstapfen von Sartre seinen Lebensekel pflegt, analysiert die Welt und die Menschen mit einem unbarmherzigen Blick, vor dem nichts und niemand Gnade findet. Vor allem die Frauen können mit seiner Verachtung rechnen, denn »einen Schwanz kann man immer noch abschneiden; aber wie die Leere einer Vagina vergessen.« Sollten sich unter den geneigten Lesern Frauen befinden, tröstet er diese großzügig mit den Worten: »Machen Sie sich nichts daraus.« Der namenlose Protagonist, der sich - wie betont wird - als Kind durchaus für die Welt interessierte, irrt verloren durch einen mit unsympathischen Kollegen, abstoßenden Frauen und anderen armseligen Geschöpfen bevölkerten Alltag. Statt der erhofften Freiheit hat der Eintritt in die Erwachsenenwelt nur eine »Ausweitung der Kampfzone« mit sich gebracht. Neu ist die Erkenntnis dieses »In-die-Welt-Geworfenseins« ja durchaus nicht; die Frage bleibt freilich, was ein Autor des ausgehenden 20. Jahrhunderts uns dazu sagen möchte.
Die Geschichte seines Antihelden ist schnell erzählt. Zusammen mit einem Kollegen führt er für seine Firma in der französischen Provinz Computerkurse durch. Die Abende verbringen sie mit der erfolglosen Jagd nach sexuellen Abenteuern. Dabei entsteht der Plan für einen durch nichts anderes als allgemeinen Lebensüberdruß, dumpfe Ohnmacht und perverse Lust motivierten Mord an einem unbeteiligten Pärchen, zu dem der Erzähler seinen Spießgesellen Tisserand anstiftet. Doch der schreckt im letzten Augenblick davor zurück. Nach diesem dramatischen Höhepunkt verläuft sich der Roman dann in lebensphilosophischen Erörterungen und der Zuspitzung der selbstbezogenen Krise des Erzählers. Zwar finden sich im Text auch Hinweise auf tagespolitische Ereignisse, wie die Attentate von arabischen Terroristen in Paris, Studentendemonstrationen und streikende Bahnangestellte. Doch dies alles läßt den Erzähler ganz offensichtlich kalt. Fernsehberichte über einen Protestmarsch der Studenten gegen Übergriffe der Polizei findet er »ermüdend« und sieht sich stattdessen lieber einen Erotik-Clip an.
Bezeichnenderweise erkrankt der Ich-Erzähler, der in der Welt statt Liebe und Zuneigung nur Triebhaftigkeit und sexuelles Begehren am Werk sieht, im Verlauf seiner Reise an einer Herzbeutelentzündung. Seine Liebensunfähigkeit ist dem Leser allerdings auch ohne diesen symbolischen Hinweis nicht verborgen geblieben. Die Menschen in seiner Umgebung erträgt er nur schwer, seine Lebensphilosophie entfaltet er vorzugsweise in seinen in den Roman eingestreuten »Tiererzählungen«. In den »Gesprächen zwischen einer Kuh und einem Fohlen«, die er eine »ethische Betrachtung« nennt, beschreibt er eine bretonische Kuh und die »beneidenswerte Einheit zwischen ihrem Dasein und ihrem Sein.« Hinter diesen großspurigen philosophischen Begriffen steckt allerdings nichts anderes als das naturgegebene »Begehren« der Kuh und dessen Befriedigung durch die künstliche Besamung. In einer anderen Tiergeschichte mit dem etwas irreführenden Titel »Gespräche zwischen einem Dackel und einem Pudel« entwickelt der Erzähler seine Gedanken über die menschliche Sexualität voller Ironie weiter. Darin kommt unter anderem eine ehemalige Mitschülerin vor, die unter ihrer abstoßenden Häßlichkeit mindestens ebenso leidet wie an ihrem völlig unpassenden Namen: sie heißt nämlich Brigitte Bardot. Am Ende entwickelt er eine skurile Theorie, derzufolge der Sex in unserer Gesellschaft eine wesentliche Ursache für die Ungleichheit zwischen den Menschen darstellt. Und das hört sich dann so an: »In einem völlig liberalen Wirtschaftssystem häufen einige wenige beträchtliche Reichtümer an; andere verkommen in der Arbeitslosigkeit und im Elend. In einem völlig liberalen Sexualsystem haben einige ein abwechslungsreiches und erregendes Sexualleben; andere sind auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt.« Spätestens hier werden die Leser gemerkt haben: der Autor ist nicht immer ganz ernst zu nehmen. Vielleicht geht es ihm auch gar nicht darum. Wie ein ungeliebtes, mißachtetes Kind verschafft er sich durch übertrieben lautes Geplapper und Provokation Gehör. Gleichzeitig sucht er eine literarische Form, mit der er die Indifferenz, das Nichts beschreiben kann: »eine plattere Ausdrucksweise, eine knappere, ödere Form,« die das fortschreitende Verlöschen der menschlichen Beziehungen auf den Punkt bringt. Französische Kritiker vergleichen den ästhetischen Minimalismus Houellebecqs mit dem knappen Stil Emmanuel Boves, eines hierzulande noch relativ unbekannten Autors, dessen Gesamtwerk derzeit in Frankreich gerade wiederentdeckt und neuaufgelegt wird und dessen erster Roman Meine Freunde 1924 erschien. Houellebeqc gelingt es mit ähnlichen sprachlichen Mitteln - und das ist das wirklich Spannende an seinem Text - die gefühlsmäßige Verrohung der Welt, ihre verflachten Kommunikations- und Wahrnehmungsgewohnheiten sprachlich einzufangen. Dies erreicht er, indem er die beiläufige Kommunikation, die zynische Vulgarität entlarvt, mit der über Gefühle hinweggeredet wird. Daneben gelingen ihm aber auch Passagen von großer poetischer Kraft, wie beispielsweise die eindrückliche, fast märchenhaft anmutende Beschreibung der Einfahrt eines Schiffes in den Golf von Aden durch die Meerenge von Bab el-Mandeb, die als zentrale Metapher für die innere Wandlung des Erzählers gelesen werden kann. Die Intensität der Empfindung, die an einigen Stellen in den Naturbeschreibungen zum Ausdruck kommt, widerspricht dem Bild des gefühllosen, distanzierten Erzählers. Es wird deutlich, daß dieser sich hinter seinem coolen Gerede versteckt. Am Ende allerdings legt er die Karten auf den Tisch und stellt sich seinen Zweifeln und seiner Zerrissenheit. Welche Konsequenzen dies für sein Leben hat, bleibt offen. Und so wird der Leser selbst über den Ausgang dieser letzten Schlacht entscheiden.
Michel Houellebecq: Ausweitung der Kampfzone. Wagenbach Verlag, Berlin 1999, 154 S., 32,- DM
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