Haben Sie Bove gelesen?« Mit dieser Gretchenfrage weckte die Zeitung Le Monde Ende der 70er Jahre bei ihren literaturinteressierten Lesern die Neugier an einem Autor der Zwischenkriegszeit, den man bis dahin zu Unrecht vergessen hatte. So gründlich vergessen, daß er fast 40 Jahre lang in so gut wie keiner Literaturgeschichte oder Anthologie mehr auftauchte. Das änderte sich 1977 mit der Neuauflage seines Romans Mes amis, der 1924 zum ersten Mal erschienen war und der ebenso wie der wenig später veröffentlichte Roman Armand die Leser sofort begeisterte. Der 1898 als Emmanuel Bobovnikoff in Paris geborene und dort 1945 verstorbene Sohn eines russischen Vaters und einer luxemburgischen Mutter schrieb und veröffentlichte zwischen 1924 und 1945 an die zwanzig Romane, etwa vierzig Erzählungen, zwei Kriminalromane und erfuhr in den 20er und 30er Jahren eine lebhafte, wenn auch teilweise kritische Rezeption in Frankreich. Die Wiederentdeckung und der Erfolg dieses Autors in den letzten zwanzig Jahren haben in Frankreich derzeit mit der Herausgabe einer Gesamtausgabe bei Flammarion einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Obwohl viele von Boves Texten inzwischen auf dem deutschen Markt erhältlich sind - darunter auch einige als Taschenbuch - gilt sein Werk noch als Geheimtip. Diesseits des Rheins ist Bove vor allem auf den Autor von Mes amis und Armand reduziert worden. Damit ist jedoch nur ein kleiner Ausschnitt seines umfassenden Werks erfaßt. Von den frühen Romanen, die zwischen 1924 und 1928 entstanden, sind derzeit noch Die Liebe des Pierre Neuhart, Dinah und Becon-les Bruyères auf deutsch lieferbar. Erst im vergangenen Herbst ist eines seiner Meisterwerke, das Journal - geschrieben im Winter im Schweizer Verlag Edition Epoca auf deutsch herausgebracht worden, fiktive Tagebuchaufzeichnungen, in denen das Scheitern einer Beziehung chronologisch festgehalten und peinlich genau analysiert wird. Diese »Szenen einer Ehe« schockieren weniger durch leidenschaftlich ausgetragene Konflikte, als durch die Gefühlskälte, Selbstbezogenheit und Liebesunfähigkeit der Beteiligten. Gleich zu Beginn seiner Tagebuchaufzeichnungen liefert der Chronist den Schlüssel für sein Scheitern, deren Ursachen er in seiner Kindheit sieht. »Um meinen Charakter zu stählen und mich fürs Leben zu rüsten« so schreibt er, schickten die Eltern den labilen Jungen im Alter von 15 Jahren in ein Pensionat. Diese schmerzhafte Erfahrung der unfreiwilligen Vertreibung aus der familiären Geborgenheit haben den »Helden« Louis Grandeville nachhaltig geprägt: »Heute ist das alles vorbei. Aber ich bin noch immer kein Mann wie die anderen Männer.« In dem im Winter 1929/30 geschriebenen Journal, das eindeutig autobiographische Züge trägt, hat Bove die Kunst des feinfühligen Psychogramms, der treffsicheren Porträtierung meisterhaft entwickelt. Stets wurden große Namen aus der Literatur mit Bove in Verbindung gebracht, wenn es darum ging, seine Schreibweise und seinen literarischen Stellenwert zu würdigen. Die Kritik scheute sich nicht, ihn mit Proust oder Julien Green zu vergleichen. Bove selbst gab einmal Dostojewski als sein Vorbild an und taufte sogar eines seiner Bücher Un Raskolnikoff. Einige Kritiker sahen in Boves nüchtern-sachlichem Stil der präzisen Oberflächenbeschreibung die Vorwegnahme wesentlicher Merkmale des Nouveau Roman. Doch solche Versuche der Einordnung und Vereinnahmung greifen zu kurz und übersehen die literarische Besonderheit dieses Autors.
Seine Wiederentdeckung verdankt Bove übrigens berühmten Schriftstellerkollegen; die Publikation seines ersten Romans in Frankreich beispielsweise der Fürsprache von Colette. Zu seinen Bewunderern gehörte Samuel Beckett ebenso wie Rainer Maria Rilke, von dem folgender Satz an seinen Übersetzer Maurice Betz überliefert ist: »Bestellen Sie, bitte, meine Empfehlung an Emmanuel Bove; ich trachte immer, ihm zu folgen...« Peter Handke schließlich hat mit seiner 1981 erschienenen kongenialen Übersetzung von Meine Freunde ganz wesentlich für die Vermittlung und Rezeption diese Werkes im deutschsprachigen Raum gesorgt.
Daß Bove gerade heutige Leser wieder anspricht, liegt sicher daran, daß sein ästhetischer Minimalismus den Nerv der Zeit trifft. Schonungslos und mit größter Genauigkeit zelebriert er die Banalität des Alltags: »Wenn ich aufwache, steht mir der Mund offen. Meine Zähne sind belegt: es wäre besser, sie am Abend zu putzen, aber das bringe ich nie über mich. In meinen Augenwinkeln eingetrocknete Tränen. Die Schultern tun mir nicht mehr weh. Ein Haarschwall bedeckt meine Stirn. Mit gespreizten Fingern streiche ich ihn zurück.«
Gleichgültigkeit und Hoffnungslosigkeit bestimmen das Leben der Antihelden, die einen Teil ihrer Zeit damit zubringen, sich selbst ins Unglück zu stürzen, während sie ansonsten damit beschäftigt sind, ihr ständiges Mißgeschick zu beklagen. Ihre materielle Not entspricht ihrer moralischen Misere und dennoch ist da die Sehnsucht nach Glück, unternehmen sie immer neue Versuche, der Einsamkeit zu entkommen. Mitunter erzählt Bove sogar richtige Geschichten, so beispielsweise in seinem letzten Roman Le Piège (Die Falle), der 1945 erschien und von einem verhinderten Widerstandskämpfer handelt. Doch auch wenn er sich - wie in diesem Buch - dem politischen Tagesgeschehen zuwendet, so beschreibt er immer wieder dasselbe: die Kluft zwischen der Sehnsucht des Menschen nach einem erfüllten, glücklichen Leben und seinem Scheitern an der Realität. Aufgrund der Akribie und Beharrlichkeit, mit der Bove selbst die unwichtigsten Details festhält, wurde er von der Kritik zu recht auch als »Mystiker des Banalen« bezeichnet.
Wie vielschichtig und universalistisch diese Prosa trotzdem ist, das führt unlängst in Berlin das »Theater zum Westlichen Stadthirschen« vor, das den Roman Meine Freunde auf die Bühne gebracht hat. Dabei ist ein kleines Wunder gelungen, denn statt den Roman für die Bühne zurechtzustutzen, hat man ganz auf die poetische Kraft des Textes gesetzt. Der wird zwei Stunden lang fast ungekürzt rezitiert und - unterstützt von Trommelschlägen - in seiner Musikalität zum Klingen gebracht. Daß dies gelingt, ist neben der wunderbaren Übersetzung Handkes einem genialen Regie-Einfall zu verdanken. Denn gesprochen wird der Text von fünf Schauspielern (vier Männern und einer Frau), die abwechselnd die Stimme des Erzählers übernehmen. Diese Polyphonie, die keinen festen Regeln unterliegt, erzeugt eine ganz eigene Atmosphäre und setzt die nervöse Suche des Erzählers wirkungsvoll in Klangbilder um. Das expressionistisch anmutende Bühnenbild führt diese Aufsplitterung fort. In fünf schäbigen Mansarden sprechen sich die Schauspieler nacheinander ihre Einsamkeit von der Seele. Auf diese Weise wird die Figur des Erzählers vielfach gebrochen; die Bühne gerät zu einem Spiegelkabinett, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Tagsüber irrt der Protagonist, ein Franz Biberkopf aus Montrouge, auf der Suche nach ein bißchen menschlicher Wärme verloren durch die Straßen von Paris. Bei seinen Streifzügen durch die Großstadt begegnet er immer wieder Menschen, die er zur Projektionsfläche für sein Liebesbedürfnis macht. Seine wilde Phantasie bringt ihn dabei häufig auch in lächerlich-groteske Situationen, die auf der Bühne als effektvolle Slapsticks gespielt werden. Seine tolpatschigen Annäherungsversuche würden einem Buster Ceaton alle Ehre machen: »Ich zog sie an mich. Unsere Knie schlugen gegeneinander wie hölzerne Kugeln. Ich achtete darauf, nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen und ihr auf die Füße zu treten.« Doch bei aller unfreiwilligen Komik bleibt dieser kriegsinvalide Großstadtnomade eine zutiefst traurige Gestalt, ein vom Pech verfolgter Außenseiter, dem eine »normale« Existenz nicht gelingen kann. Die Inszenierung findet dafür ein letztes eindrückliches Bild. Am Ende steht ein Mann ganz allein auf der Bühne und stellt verwundert fest: »Seltsam wie alles weitergeht, ohne einen selber.«
Emmanuel Bove: Meine Freunde, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1997
Emmanuel Bove: Journal - geschrieben im Winter. Roman, Edition Epoca, Zürich 1998
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