Schließ dich den Juden an!

GELASSENHEIT IM SCHEITERN Lenka Reinerovás Erzählband "Zuhause in Prag - manchmal auch anderswo" verschlüsselt die Erfahrungen des Exils

Wer Leben und Werk der tschechischen Schriftstellerin Lenka Reinerová ein wenig kennt, weiß um den Euphemismus, der sich hinter dem Titel ihres letzten Buches Zuhause in Prag - manchmal auch anderswo verbirgt. Die 1916 in Prag geborene und in einer zweisprachigen Familie aufgewachsene Autorin hat im Prag der dreißiger Jahre die befruchtende Symbiose des Miteinander von Menschen tschechischer und deutscher Nationalität, nichtjüdischer und jüdischer Herkunft erlebt, die Vielzahl der Redaktionen tschechischer und deutscher Tageszeitungen, die Existenz von Universität und Theatern in beiden Sprachen. Als blutjunges Mädchen hatte sie Kontakt zur deutschen Emigrantenszene und wurde von F. C. Weiskopf, dem Redakteur der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung, als Journalistin engagiert. Wie viele ihrer damaligen Mitstreiter mußte sie sich 1939 auf eine lange unfreiwillige Wanderschaft ins "Anderswo" des Exils begeben. 60 Jahre später, im vergangenen November wurde die große alte Dame der deutschsprachigen Literatur Prags von der Schillerstiftung - der ältesten deutschen Kulturstiftung - mit dem erstmals vergebenen Schillerring für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.

In ihrer Prosa - und dies gilt auch für den gerade erschienenen Erzählband - verarbeitet Lenka Reinerova stets autobiographische Erfahrungen. Wie sie in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Preises sagte, ist Hemingway ihr schriftstellerisches Vorbild, über den Gabriel Garcia Marques schrieb: "Er erzählte nur, was er mit eigenen Augen gesehen, was er in eigener Erfahrung erlitten und genossen hatte." Und so tauchen wir auch in ihren neuen Erzählungen wieder in das ereignisreiche Leben einer Nomadin wider Willen, die auszog, das Fürchten zu lernen. In der Titelgeschichte ihres neuen Buches nimmt sie uns noch einmal mit auf die verschiedenen Stationen ihrer Lebensreise. "Join the jews, see the world - schließ dich den Juden an und lerne die Welt kennen" mit diesem bitteren Witz kommentiert sie die absurde Situation der Flüchtlinge, denen sie auf ihrer Flucht in Marseille und Casablanca begegnete, und die das grausame Schicksal der Verfolgung in die entlegensten und exotischsten Winkel dieser Erde führte. So wie Lenka Reinerova, die es zunächst nach Frankreich verschlug.

Aufgrund ihrer Aktivitäten im "Haus der tschechoslowakischen Kultur" wurde sie im Herbst 1939 verhaftet und nach sechsmonatigem Gefängnisaufenthalt im südfranzösischen Frauenlager Rieucros interniert. In der Extremsituation der Einzelhaft im Pariser Frauengefängnis beginnt sie zu schreiben: "ein Kinderbuch, eine Art Detektivgeschichte mit ganz jungen Helden, ein Kinderkrimi ohne Gewalt und Blut." Und während ihres mehr als einjährigen Lageraufenthaltes verfasst sie Märchen und zahlreiche Liedertexte, die bei festlichen Anlässen im Lager zur Aufführung kommen. 1941 erhält sie ein Visum für Mexiko, und es gelingt es ihr - allerdings erst nach einer atemberaubenden Zwischenstation in Marokko und dem Wüstenlager Oued Zem in der Sahara - das rettende Exilland zu erreichen, wo sie 1943 den jugoslawischen Arzt und Schriftsteller Theodor Balk heiratet.

In Mexiko bewegt sie sich im Kreis der deutschen kommunistischen Emigranten und nimmt an deren kulturellen Aktivitäten teil. Sie schreibt Reportagen für die Zeitschrift Freies Deutschland und arbeitet für die tschechoslowakische Exil-Botschaft. 1945 kehrt das Paar nach Europa ins zerstörte Belgrad zurück - Lenka Reinerova ist gerade im 5. Monat schwanger. Seit 1948 lebt sie wieder in ihrer Heimatstadt Prag. Doch "war ich hier überhaupt noch zu Hause?" fragt sich die Erzählerin am Ende ihrer Odyssee in einer Stadt, die sie mit dem Tod der geliebten Menschen und der Auslöschung der jüdischen Bevölkerung Prags konfrontiert.

Der Heimkehr wird noch viel Bitterkeit und Enttäuschung folgen. Anfang der fünfziger Jahre wird Lenka Reinerová als Opfer der stalinistischen Politik fünfzehn Monate in Untersuchungshaft verbringen. Anschließend wird sie mit ihrer Familie in die Provinz abgeschoben und erst 1964 rehabilitiert. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings erhält sie 1968 Publikationsverbot, wird aus der KPC ausgeschlossen und verliert ihre Arbeit in einem Verlag. In der Erzählung werden diese Ereignisse rückblickend relativiert, ihre Dramatik entschärft, in einem versöhnlichen "auch das ging eines Tages vorüber" aufgehoben. Stärker noch als in ihren früheren Erzählungen werden die Bedingungen und Grenzen der menschlichen Existenz, die Möglichkeit der Veränderung im Individuum selbst gesehen.

Zur Veranschaulichung ihrer Lebensphilosophie benutzt Lenka Reinerová ein Bild aus der Natur: was dem Menschen an Gutem und Schlechtem wiederfährt, ist so wenig vorhersehbar, wie die Bewegung der Wolken, die sich manchmal vor die Sonne schieben und die Erde verdunkeln und schon Sekunden später verschwunden sein können: "Einmal licht, einmal dunkel. Aber das kennen wir doch alle, solche Augenblicke gibt es in jedem Leben. Die einen möchte man festhalten, die anderen tunlichst schnell vergessen." In fast existenzialistischer Manier sieht Lenka Reinerova die Freiheit des Menschen darin, sich dem eigenen Schicksal zu stellen. In dieser moralischen Kraft sieht sie den "Hausengel" am Werk. "Der kommt, wenn er merkt, daß man selbst den guten Willen hat, sich nicht von einer bösen inneren oder äußeren Gefahr unterkriegen zu lassen, ganz allein damit jedoch nicht fertigwerden kann." Unwillkürlich kommt einem dabei Walter Benjamin in den Kopf, dessen Bild vom "Engel der Geschichte" und seine Geschichtsphilosophie, die er 1940 in seinen Thesen "Über den Begriff der Geschichte" im französischen Exil niederschrieb.

Mit Walter Benjamin teilt Lenka Reinerová das messianische Moment, die Gelassenheit - um nicht zu sagen Heiterkeit - inmitten des Scheiterns, aber auch den Glauben an die Veränderung. Der Selbstfindungsprozess, den sie den Brünner Arzt und Emigranten Dr. Michael Racek in ihrer zweiten Erzählung mit dem Titel Der Hausengel durchlaufen läßt, endet mit dessen Engagement in einer buntgewürfelten Widerstandsgruppe in Marseille. Durch die Begegnung mit der tschechischen Widerstandskämpferin Darinka - in der wir unschwer Züge der Autorin wiederfinden - erkennt er "die Sinnlosigkeit seiner augenblicklichen Nichtexistenz" und beschließt, das nach langem Warten endlich eingetroffene Schiffsticket verfallen zu lassen. Während der Hausengel in dieser Erzählung als Katalysator des Erkenntnisprozesses verstanden werden kann, der der Politisierung dient, wird er in der letzten Erzählung als Allheilmittel eingesetzt und büßt damit von seiner literarisches Wirkung und Aussagekraft ein. Gegen einfache Unbillen des Alltags wird er ebenso eingesetzt wie gegen Ausgrenzung und Stigmatisierung aufgrund von Religionszugehörigkeit oder Behinderung und gerät so in die Gefahr der Beliebigkeit. Trotz dieser Einschränkung liegt die Qualität der Erzählungen in ihrem versöhnlichen Blick auf den Alltag, die humorvollen Beschreibungen der zwischenmenschlichen Beziehungen, die besonders dann wirkungsvoll sind, wenn die Autorin sie mit ihrem unnachahmlich ironischen Ton würzt.

Lenka Reinerová: Zuhause in Prag. Manchmal auch anderswo. Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 180 S., 29,90 DM

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