Weiter so!

Kehrseite II Es fing damit an, dass ich Geld brauchte. Telefongesellschaft sucht TelefonistInnen, las ich. Acht Euro die Stunde, flexible Arbeitszeiten, Schulung ...

Es fing damit an, dass ich Geld brauchte. Telefongesellschaft sucht TelefonistInnen, las ich. Acht Euro die Stunde, flexible Arbeitszeiten, Schulung vor Ort und das ganze auf 400 Euro-Basis. Ich rief selbstbewusst, freundlich und wortgewandt an und bekam einen Termin für den nächsten Tag.

Im Schulungsraum saßen diverse Bewerber, die noch früher da waren als ich. Auf den Wandregalen über ihren Köpfen glänzten fünf riesige Pokale. Dieses Call-Center musste fünffacher Weltmeister sein, worin auch immer, ich war beeindruckt.

Dann betrat der sportlich und gut aussehende Chef den Raum und stellte sich vor. Er hieß uns willkommen und strahlte Kompetenz aus, Teamgeist, Kraft und Autorität.

Wir wussten, wo es langgeht, als er uns die Kopien mit dem Gesprächsleitfaden austeilte, wir hatten Vertrauen, als er die Verträge vorlegte und Motivation, als er von Aufstiegschancen sprach. Er machte seine Sache gut.

Dann waren wir an der Reihe.

"Ich bin arbeitsloser Netzwerktechniker", jammerte ein Fünfzigjähriger. Er machte seine Sache schlecht. Er rebellierte gegen den Gesprächsleitfaden und stellte Fragen zum Arbeitsvertrag. Ob die Probewoche bezahlt würde. "Ja", sagte der Chef, ruhig und souverän, "wenn Sie die Probewoche bestanden haben, bekommen Sie eine Pauschale von 140 Euro." Die Vorstellungsrunde nahm ihren Lauf. Es gab Männer und Frauen, Alte und Junge, Menschen mit und Menschen ohne Manschette am Ärmel, mit und ohne Baby im Bauch, mit und ohne Call-Center-Erfahrung. Wir alle wurden geschult, wir alle bekamen eine Chance. Nur der arbeitslose Netzwerktechniker war schon weg, bevor die Arbeit überhaupt losging.

Mein Kopf glühte. Ich verstand kaum mein eigenes Wort und noch weniger die Worte meiner Gesprächspartner. Die Kunst besteht darin, einen der besser funktionierenden Kopfhörer zu ergattern, lernte ich und kam ab jetzt eine Viertelstunde früher zur Arbeit. Den Gesprächsleitfaden hatte ich inzwischen verinnerlicht. Meine Aufgabe bestand darin, eine DINA-4-Seite vorzutragen. Ich sollte ein revolutionäres Produkt ankündigen, das es in zwei Jahren geben würde, um dann zu unseren ab sofort erhältlichen, konkurrenzlosen Minutenpreisen überzuleiten. Es gab Menschen, die mich für meinen Anruf verfluchten, es gab Menschen, die sich für ihr Desinteresse entschuldigten, und es gab Menschen, die einfach auflegten. Unangenehm waren solche, die Fragen stellten. Um was für ein revolutionäres Produkt es sich handle, wie man es bediene und ob es gesundheitsschädlich sei. Solche Gespräche endeten allzu oft damit, dass man eine Unterhaltung mit mir aufgrund meiner Unwissenheit für sinnlos erklärte.

Meine Interessentenliste beschränkte sich auf verwirrte Omis. Und da es von verwirrten Omis immer noch viel zu wenige gibt, wurde ich in den Schulungsraum zitiert. "Es könnte besser laufen", sagte mein Chef. Leider sagte er mir nicht wie.

Ab jetzt sprach ich meinen Text noch freundlicher, noch schwungvoller, noch euphorischer - was dazu führte, dass die Netten aggressiv und die Omis skeptisch wurden. "Was soll ich tun?", fragte ich meinen Chef. "Sie müssen sich mehr Mühe geben", sagte er. Es sei ja immer dasselbe mit Angestellten. Angestellte seien wie Kinder. Sie testeten ihre Grenzen aus. "Sie müssen sich mehr Mühe geben", sagte er noch einmal. In seinen Augen blitzte das Kleingedruckte des Arbeitsvertrages: Wenn du nicht lieb bist, werden wir dich am Ende der Woche kündigen. Und zwar unbezahlt!

Zurück im Laufstall bekrickelte ich den Gesprächsleitfaden. Ich pfiff auf das revolutionäre Produkt und kam sofort auf die Minutenpreise zu sprechen. Meine Gesprächspartner erkannten von selbst, dass die Preise konkurrenzlos sind. Man wollte also weg von der Telekom, so schnell wie möglich.

"Das geht noch besser", empfand mein Chef.

Er hatte recht. Auch Menschen, die eigentlich gerade ihre Kinder ins Bett bringen wollen, auch solche, die einen Todesfall betrauern oder unendlich glücklich sind mit der Deutschen Telekom, haben ein Recht darauf, dass ich sie gründlich über ihre mögliche Telefonkostenersparnis aufkläre.

Ich bestand die Probewoche. Ich überstand die nächsten drei Monate. Ich sprach mit tausenden von Menschen. Über ihre Rückenschmerzen, über Tinitus und Heuschnupfen, über gescheiterte Beziehungen, über Musik, Liebe, Weltreisen und darüber, wie schön das Leben sein kann - um dann wieder auf unsere konkurrenzlosen Minutenpreise zurück zu kommen. Eine Omi las mir ihr Gedicht vor, nachdem ich sie über unser unverbindliches Angebot informiert hatte. Das Gedicht handelte vom Leben im Hier und Jetzt. "Großartig", sagte ich, weil sie mir endlich ihre Adressdaten verraten sollte. "Ich habe Demenz", sagte sie. "Oh", antwortete ich, "dann wissen Sie ihre Adresse sicher gar nicht." - "Doch!" - "Und Ihr Geburtsdatum?" - "Auch!" Sie sagte mir beides und war stolz. Ich beglückwünschte sie und beendete das Gespräch.

Das muss aufhören, sagte mir mein Gewissen. "Weiter so!", sagte mir mein Chef. - Ich wollte einen anderen Job, augenblicklich. "Das ist nicht so einfach", erklärte mir ein Kollege, "du musst zwei Wochen Kündigungsfrist einhalten, sonst wirst du nicht voll ausgezahlt." Ich schrieb die Kündigung zwei Wochen im Voraus, mit der Bitte voll ausgezahlt zu werden. Ich wollte auf Nummer sicher gehen, ich wollte eine Unterschrift. "Das ist Sache des Geschäftsführers", sagte mein Chef. Der Geschäftsführer war nicht da. Ich hinterließ die Kündigung bei der Sekretärin und erkundigte mich am nächsten Tag danach. Ich solle den Geschäftsführer persönlich fragen. Er sei aber momentan nicht im Hause. Ich solle im Laufe des Tages einfach schauen, ob er in seinem Büro sei.

Was ich dann auch tat.

Ob er mein Kündigungsschreiben erhalten habe.

"Wozu?"

Zwecks Unterschrift.

"Warum sollte ich eine Kündigung unterschreiben?"

Ich wolle bestätigt haben, auch in den nächsten Wochen zu den bisherigen Konditionen arbeiten zu können. Ich wolle ihm nichts unterstellen, doch manchmal höre man von anderen Betrieben ...

"Wieso, wenn Sie gekündigt haben, brauchen Sie zu überhaupt keinen Konditionen mehr zu arbeiten."

Ich verwies ihn auf die zwei Wochen Kündigungsfrist.

Kurze Pause.

Anscheinend wollte er nicht länger mit mir über irgendwelche Konditionen diskutieren. Er wechselte das Thema.

"Sie wissen, dass Sie hier während der Arbeitszeit mit mir sprechen?"

Ja, die Sekretärin habe mir gesagt ...

"Sie wissen, dass Sie hier während der Arbeitszeit mit mir sprechen."

Ja, da die Sekretärin ...

"Sie wissen, dass das ein Kündigungsgrund ist."

"Aber wann soll ich denn sonst ..."

"Dann sind sie hiermit fristlos entlassen."

Melanie Arns ist Schriftstellerin und lebt in Berlin, ihr neuer Roman Traumpaar, nackt ist im August bei Jung und Jung erschienen.


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