Tigray: Eine Region in Äthiopien bleibt gezeichnet, auch wenn nicht mehr gekämpft wird
Schweres Erbe Nach der Ende 2022 in Pretoria ausgehandelten Waffenruhe zwischen der äthiopischen Regierung und der Tigray-Volksbefreiungsfront schweigen zwar die Waffen, doch ist keine Nachkriegsordnung erkennbar, die dauerhaften Frieden garantiert
Assia Abdu ist acht Jahre alt. Sie wurde in einem Dorf nahe Tigray von Granatsplittern und Schüssen getroffen
Foto: Eduardo Soteras/AFP/Getty Images
Es war vor gut einem halben Jahr: Redwan Hussien, Nationaler Sicherheitsberater der Regierung in Addis Abeba, und Getachew Reda Kahsay, Emissär der Tigray-Volksbefreiungsfront (TPLF), verhandelten unter Schirmherrschaft der Afrikanischen Union (AU). Der seit November 2020 tobende Bürgerkrieg in Äthiopiens nördlichster Region sollte eingedämmt, nach Möglichkeit beendet werden. Man rang nicht nur um eine Feuerpause, sondern einen belastbaren Frieden. Noch während sondiert wurde, starben bei einem Massaker der eritreischen Armee, die in Tigray auf Seiten der Regierungsstreitkräfte des Premiers Abiy Ahmed kämpfte, etwa 300 Zivilisten. Wie später die Washington Post unter Bezug auf Augenzeugenberichte und Satellitenaufnahmen schrieb, hatten w
Abiy Ahmed kämpfte, etwa 300 Zivilisten. Wie später die Washington Post unter Bezug auf Augenzeugenberichte und Satellitenaufnahmen schrieb, hatten während der Friedensgespräche im südafrikanischen Pretoria eritreische Soldaten zehn Dörfer östlich der Stadt Adwa überfallen. Zum Selbsthass getrieben Erst als die Militärs aus dem Nachbarland Anfang 2023 teilweise abzogen, wagten es Überlebende darüber zu sprechen, was geschehen war, auch wenn sie Vergeltung fürchten mussten. Und das aus gutem Grund. An dem Anfang November 2022 geschlossenen Abkommen zwischen der äthiopischen Regierung und der Tigray-Befreiungsfront war Eritrea – obwohl Kriegspartei – nicht beteiligt. Mit am Verhandlungstisch saßen zwar die ehemaligen Staatschef Nigerias und Kenia, Olusegun Obasanjo bzw. Uhuru Kenyatta, um die diplomatische Mission der Afrikanischen Union zu unterstützen. Doch konnten sie weder dafür sorgen, dass Eritrea in die Pflicht genommen wurde, noch Aufklärung und Sühne für die seit 2020 von allen Parteien verübten Kriegsverbrechen in Aussicht standen.Entzug von Nahrung und WasserWenigstens konnten sich die Unterhändler in Pretoria darauf verständigen, die Waffen schweigen zu lassen und auf weitere Gewaltakte zu verzichten. Eine verheerte, durch Vertreibungen entvölkerte Region sollte Ruhe finden. Auch wollten sich die Konfliktparteien fortan feindseliger Hetze enthalten. Immerhin hatte noch im Juni 2021 die äthiopische Führung gelobt, sie wolle die Antipoden in Tigray „für die nächsten hundert Jahre auslöschen“. Auch wenn das Agreement von Pretoria bis heute Bestand hat, sind dessen Mängel erheblich. Eritreas Präsident Isaias Afwerki kann die Kriegsverbrechen seiner Militärs in Tigray leugnen. Schließlich hat er sich nirgendwo zur Aufarbeitung verpflichtet. Disproportionen im Friedensprozess zeigen sich ebenso in anderer Hinsicht. Während die in Pretoria vereinbarte Entwaffnung von TPLF-Kadern voranschreitet, halten paramilitärische Milizen aus der Nachbarprovinz Amhara weiterhin Territorien in Tigray, sodass die Zivilbevölkerung vor erneuten Gräueln nicht sicher ist.Was das bedeuten kann, lässt sich dem seit September 2022 vorliegenden Bericht des UN-Menschenrechtsrates zu Tigray entnehmen. Er listet auf, was seit 2020 an Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurde: ein systematischer Entzug von Nahrung, Wasser und Gesundheitsfürsorge, Grausamkeiten, denen Frauen ausgesetzt waren, ethnische Säuberungen.Unhaltbare ZuständeWie ein Psychologe am Ayder Hospital in der Tigray-Hauptstadt Mek’ele berichtet, leiden viele Überlebende an den Konsequenzen sexualisierter Gewalt. „Frauen und junge Mädchen haben Schmerzen, Blutungen, Fehlgeburten, dazu sexuell übertragbare Krankheiten. Sie durchleben alle Facetten von Scham. Das reicht von Selbstanklage und Selbsthass bis hin zu Suizid-Gedanken.“ Vier Fünftel der Hospitäler und Ambulanzen Tigrays wurden durch Kampfhandlungen und gezielte Plünderungen zerstört. All das müsse wiederaufgebaut und die nötige medizinische Ausstattung beschafft werden, sagt Kibrom Gebreselassie, geschäftsführender Direktor des Ayder Hospitals.„Zwar gelangen Medikamente und Impfstoffe inzwischen wieder zu uns. Nur reichen sie bei weitem nicht.“ Solange es keinen durchschlagenden Fortschritt gäbe, blieben die meisten Gesundheitseinrichtungen weiter geschlossen. Ein unhaltbarer Zustand, wenn die Rückkehr von Vertriebenen ansteht. Laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR gab es Anfang Maiin Äthiopien noch2,73 Millionen Binnenflüchtlinge, vorzugsweise aus Tigray. Zusätzlich hielten sich 880.000 Migranten aus dem Südsudan, aus Somalia und Eritrea im Land auf. Wegen des blutigen Machtkampfes im Sudan kamen mittlerweile noch einmal 100.000 Schutzsuchende hinzu. Ungewiss ist das Schicksal von fast 60.000 Menschen, die während des Tigray-Konfliktes in den sudanesischen Provinzen Kassala und Gedaref Zuflucht suchten. Wegen eines weitgehend blockierten Telefonnetzes in Tigray haben viele davon jeden Kontakt zu Angehörigen in der Heimat verloren und wissen nicht, ob und wie sie je zurückkehren können. Einige Städte im Westen Tigrays wie Adi Hageray, Adinebried oder Sheraro sind völlig zerstört. Bauern haben durch den Krieg das Vieh und damit ihre Existenzgrundlage verloren. Allerdings hätte die herrschende schwerste Dürre seit 40 Jahren vermutlich eine ähnliche Wirkung hinterlassen.Im April entschloss sich Premierminister Abiy Ahmed dazu, in der Provinz Amhara paramilitärische Gruppen aufzulösen, bei denen es sich um Verbündete im Kampf gegen die TPLF handelte. Das sorgte umgehend für Spannungen. In Amhara wird befürchtet, dass sich Addis Abeba der am 23. März eingesetzten Interimsregierung in der Tigray-Hauptstadt Mek’ele annähert. Möglicherweise sogar Gebiete an Tigray abgetreten werden sollen. Das hat bereits zu einem bewaffneten Konflikt zwischen Regierungstruppen und der Oromo-Befreiungsarmee (OLA) in der Provinz Amhara geführt. Regionalpräsident Shimelis Abdissa hat daraufhin die OLA wiederholt zu Friedensverhandlungen aufgefordert. Äthiopien braucht die Oromia-Region für sein nationales Weizenexport-Programm. Das wurde aufgelegt, obwohl in Tigray Hunderttausende unter Hunger leiden und in den Hospitälern Kinder sterben, weil ihnen Medikamente und andere lebenswichtige Hilfsgüter versagt bleiben, Geißel der Straflosigkeit Laut der UN-Flüchtlingshilfe sind derzeit allein in Tigray 90 Prozent der Bevölkerung – etwa5,4 Millionen Menschen – vonhumanitärer Hilfe abhängig. Vor Beginn des bewaffneten Konflikts Ende 2020 waren es nur gut zehn Prozent. Dessen ungeachtet teilte Abiy Ahmed Mitte Februarnach einem Besuch in der Oromia-Region mit, dass er den Import von Weizen stoppen und mit eigenen Ausfuhren des Getreides beginnen wolle. Ob es daraufhin gelingt, den im Vorjahr in Pretoria vereinbarten Friedensprozess mehr Leben einzuhauchen, erscheint eher fraglich. Je weniger die Bevölkerung in Tigray spürt, dass ihr Humanität, Fürsorge und Gerechtigkeit widerfahren, desto stärker werden die weiter vorhandenen Autonomiebestrebungen auf Widerhall stoßen. Ganz abgesehen davon, dass Vertrauen in die Zentralregierung durch die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen gewonnen wird oder verloren geht. Die Geißel der Straflosigkeit ist keine Gewähr dafür, dass sich Millionen von Geflüchteten sicher fühlen, wenn sie eines Tages in ihre Heimatgebiete zurückkehren und dort wieder leben wollen.Placeholder authorbio-1
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