„Ich bleib daheim“

Interview Armut ist weiblich. Das liegt an den Strukturen, sagt Soziologin Sigrid Betzelt. Aber auch an den Frauen
Ausgabe 48/2018

Lehrerin, Astronautin oder Bäckereifachverkäuferin? Egal. So unterschiedlich Biografien sind, so einheitlich ist der Befund: Frausein ist ein Armutsrisiko. In Deutschland wird nur das Haushaltseinkommen erhoben – wie die Vermögen sich verteilen, lässt sich also nicht sagen. Aber die Risiken, #unten zu landen, sind für Frauen deutlich höher: schlechte Arbeitsbedingungen, unbezahlte Hausarbeit, weniger Rente. Armutsforscherin Sigrid Betzelt sagt: Kein Wunder, wenn Frauen da keine Lust auf Erwerbsarbeit haben.

der Freitag: Frau Betzelt, drei Viertel der Frauen in Deutschland arbeiten. Noch höher ist die Quote nur in Schweden. Trotzdem zeigen alle Zahlen: Armut ist weiblich. Warum?

Sigrid Betzelt: Die atypischen Beschäftigungsformen – Teilzeit, Leiharbeit, befristete Beschäftigung und Minijobs – werden immer noch zu zwei Dritteln von Frauen ausgeübt. Außerdem bringt die Zuweisung von Sorgearbeit – also Kindererziehung, Pflege von hilfsbedürftigen Angehörigen – ein zweites hohes Armutsrisiko mit sich. Dazu kommt der Gender Wage Gap. Frauen verdienen nach wie vor deutlich weniger als Männer – auch für den gleichen Job, auch bei gleicher Qualifikation.

Frauen lernen schlecht bezahlte Berufe, bekommen Kinder und verhandeln ihre Gehälter nicht ordentlich. Schieben solche Erklärungen nicht die Verantwortung für Armut auf die einzelne Frau und ihre Lebensentscheidungen ab?

Die Einzelnen haben immer auch Verantwortung. Ich finde, gerade gut ausgebildete Frauen sollten nicht zu leichtfertig in diese Falle tappen, nur die Zuverdienerin zu sein, nachdem sie ein Kind bekommen haben. Klar kann man auch zeitweise aus dem Berufsleben aussteigen, das ist aus verschiedener Sicht sinnvoll. Aber es wäre schon gut, wenn Frauen das nicht zu lange tun.

Warum steigen die Frauen denn aus?

Ich denke, weil die Anforderungen heute in den Jobs generell sehr hoch sind. Dem Leistungsdruck wollen sich nicht alle aussetzen. Das ist auch kritikwürdig: Arbeitsbedingungen müssen verbessert werden. Im Dienstleistungssektor, gerade in den sogenannten Frauenbranchen Einzelhandel, Reinigung, Gastronomie, sind sie miserabel. Sich dem auszusetzen, ist natürlich nicht attraktiv. „Da bleib’ ich doch lieber zu Hause beim Kind“, ist komplett rationales Verhalten, solange die Arbeitsbedingungen zum Teil so sind, wie sie sind.

Aber daran ist doch wiederum die Gesellschaft schuld und nicht die einzelne Frau und ihre Lebensentscheidungen.

Klar, Armut ist ein gesellschaftliches Problem und kein individuelles Versagen. Es gibt klare strukturelle Risiken, die Armut bedingen und die es zu beseitigen gilt. Da sind die Gesellschaft, der Sozialstaat, Arbeitgeber und Gewerkschaften gefragt. Was nicht heißt, dass die Einzelnen nicht versuchen müssen, Armutsrisiken zu vermeiden und ihre Entscheidungen sehr gut zu überlegen. Aber sie können das ja nur in dem Rahmen, den sie vorfinden. Wenn es keine Kinderbetreuung oder ausreichende Ganztagsschule gibt oder die Arbeitsbedingungen miserabel sind, dann entscheiden Individuen so, wie es für sie rational ist.

Zur Person

Sigrid Betzelt, ist Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Arbeits- und Organisationssoziologie an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR). Sie forscht zu Angst im Wohlfahrtsstaat, Geschlechterbias in der Arbeitmarktpolitik und dem Wandel der Arbeitswelt

Wie landen Frauen überhaupt in prekären Berufen? Mädchen haben doch heute bessere Schulabschlüsse, an den Unis studieren zur Hälfte Frauen.

Frauen haben eine relativ geringe Bildungsrendite. Das heißt, sie profitieren ökonomisch weniger von ihren Bildungsinvestitionen. Auch das hat mit Strukturen zu tun. Paare kehren zu traditionelleren Mustern zurück, wenn Kinder kommen. Nicht alle, aber dennoch ist es so, dass auch bei Akademikerpaaren mit Kindern die Frauen ganz überwiegend diejenigen sind, die Teilzeit erwerbstätig sind. Das Gleiche gilt für Erwerbsunterbrechungen wie die Elternzeit. Und was Bildung angeht, gibt es sehr große Unterschiede. Migrantinnen sind auch da benachteiligt.

Wer sind denn statistisch die ärmsten Frauen?

Die Gruppen, die auf dem Arbeitsmarkt besonders benachteiligt sind, wie Frauen mit Behinderung, sind natürlich besonders stark betroffen von Armut. Frauen mit Migrationshintergrund sind besonders lange arbeitslos, oft weit unter ihrer Qualifikation beschäftigt, in schlechten Jobs. Und sie sind vielfach noch stärker davon betroffen, dass ihnen die familiale Sorgearbeit zugewiesen wird. Zu Armutslagen von Transpersonen kenne ich keine Studien, aber sie erleben durchaus Diskriminierung, das kann man ganz klar sagen.

In der Forschung kursiert seit einiger Zeit auch der Begriff der Zeitarmut. Hat der Tag nicht für uns alle 24 Stunden?

Zeitarmut ist so gemeint, dass die verfügbare Zeit immer zu knapp ist, um alles unter einen Hut zu bringen. Das hat eine ganz klare Geschlechtsspezifik, weil Reproduktionsarbeit nach wie vor den Frauen zugewiesen wird – und sie sich diese auch selbst zuschreiben. In Zeitverwendungsstudien sieht man, dass Frauen nach wie vor einen erheblich höheren Anteil an unbezahlter Arbeit verrichten. Gerade diejenigen, die erwerbstätig sind, gleichzeitig pflegen und möglicherweise Kinder versorgen, haben einen wahnsinnigen Zeitaufwand. Für ihre eigenen Bedürfnisse, für Erholung, für Schlaf bleibt viel zu wenig Zeit. Und das hat dann gesundheitliche Folgen.

Sie forschen auch zur geschlechtsspezifischen Armut unter arbeitslosen Frauen. Bei der Berechnung von Hartz IV wird doch gar kein Unterschied zwischen Männern und Frauen gemacht?

Wir haben in Hartz IV die sogenannte Bedarfsgemeinschaft. Das bedeutet, dass das gesamte Einkommen des Haushalts zusammengeworfen und dann geschaut wird, ob der über die Bedürftigkeitsschwelle kommt. Das betrifft zunächst alle. Aber durch den Gender Wage Gap sind Frauen dann häufig abhängig vom durchschnittlich höheren, meistens männlichen Partnereinkommen. Die Bedarfsgemeinschaft ist ein Rollback zum alten männlichen Ernährermodell. Subsidiaritätsprinzip – der männliche Ernährer soll für die Familie sorgen – ist implizit die Idee dahinter.

Eine Studie hat ergeben, dass Hartz-IV-Empfängerinnen dreimal öfter abtreiben als andere Frauen.

Es gibt weitere geschlechtsspezifische Effekte. Gewaltbeziehungen zu verlassen, ist für Frauen, die sich mit ihren Jobs nicht selbst ernähren können oder die arbeitslos sind, sehr viel schwieriger. Gerade bei den erschreckenden Zahlen zu häuslicher Gewalt kann man davon ausgehen, dass da viele dabei sind, die Gewaltbeziehungen deshalb nicht verlassen können.

Die große Frage ist natürlich: Was muss sich tun?

Sehr, sehr viel. Der Sozialstaat müsste die sozialen Dienstleistungen stark ausbauen und an den sozialen Sicherungssystemen manches ändern. Angefangen davon, dass Frauen für ihre unbezahlte Sorgearbeit mehr Leistungen bekommen müssten.

Und die Frauen? Wie können die das Armutsrisiko senken?

Indem sie sich nicht zu schnell mit der Rolle der Zuverdienerin oder Hausfrau und Mutter zufriedengeben. Ich will das gar nicht abwerten: Aber wenn man etwas gegen Armutsrisiken tun will, ist Erwerbstätigkeit schon ein sehr wichtiger und eigentlich unverzichtbarer Baustein.

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