Als von Balkonen das "Reich" ausgerufen wurde

Intervention Ein Wiener Balkon als "Un-Ort" des Verkündens

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Wiener Rathaus mit Balkon aus 1938/39
Wiener Rathaus mit Balkon aus 1938/39

Foto: Memory Gaps, 2018

Kanzeln und Balkone waren und sind stets auch mit Vorsicht zu genießen. Zu oft wurden Menschen von prächtigen Kanzeln und hohen Emporen aus "abgekanzelt". Zu viele Monarchen brüllten bereits von Balkonen herab zu ihren Untertanen, viele Diktatoren zum sogenannten "Volkskörper".

Balkone und Kanzeln sind stets erhöhte Orte des Verkündens. Von diesen wird hinabgesprochen, etwa auf jene, die unten stehen und nicht an der Macht teilhaben. Von Balkonen aus wurden nicht nur Friedensverträge präsentiert, Fahnen geschwenkt und Wahlsiege gefeiert, es wurden auch zweifelhafte Reiche proklamiert und schreckliche Kriege ausgerufen.

Balkone - die vielfachen Un-Orte

Auf einem eigens errichteten Holzbalkon, an der Hauptfassade des Wiener Rathauses, verkündete Joseph Goebbels, bei strahlendem Sonnenschein und kühlem Wetter, am 09. April 1938, den „Tag des Großdeutschen Reiches“. Danach zeigte sich auch Hitler mehrfach auf diesem. Es war ein "triumphaler Empfang Adolf Hitlers in der Hauptstadt der Ostmark" (Kleine Volks-Zeitung, 10.04.1938)

Goebbels proklamiert in Wien den "Tag des Großdeutschen Reiches"

Bereits wenige Wochen nach dem Anschluss Österreichs, vom 13. März 1938, zeigten die großen Tageszeitungen des Landes ein erschreckendes Bild der Gleichschaltung und des vorauseilenden Gehorsams: "Österreichs Erretter – Großdeutschlands Erbauer", titelte die Illustrierte Kronen-Zeitung. Der Propagandaartikel bejubelte die "hochauflodernde Liebe zum Erretter der Nation und unserer Heimat", mit der "Glut der Liebe und Verehrung der Volksgemeinschaft". (Illustrierte Kronen-Zeitung, 09.04.1938)

Von Linz kommend, fuhr Hitlers Sonderzug, am 9. April 1938, um 11:15 Uhr, am Wiener Westbahnhof ein. Die NS-Wagenkolonne bewegte sich danach über den Ring durch das "Spalier der Hunderttausenden" (Wiener Neueste Nachrichten, 10.04.1938) zum Wiener Rathaus.

Die Illustrierte Kronen-Zeitung, vom 10.04.1938, berichtet: "Von der Ferne erhebt sich eine Welle des Jubels, pflanzt sich fort über das endlose Spalier der Menschen, die entlang dem Ring stehen. Immer näher dringt das Brausen, von der Burg, jetzt vom Parlament und nun bricht ein Orkan des Jubels los, wie ein einziger Schrei hallt es: »Führer, Sieg Heil!« Schon hat die Spitze der Wagenkolonne das Burgtheater erreicht und biegt nun ab in die Straße, die zum Rathaus führt. Unbeschreiblich sind die Kundgebungen der Freude und des Jubels und getragen von einer Woge grenzenlosen Glücks erreichte nun die Spitze des Zuges das Rathaus. Im ersten Wagen steht der Führer … Immer wieder branden ihm die Heilrufe entgegen, die in diesem Augenblick zu einer Offenbarung des Dankes, einer Manifestation der Liebe werden."

"Treuebotschaften“ der Gaue an Hitler

Auf der Freitreppe vor dem Rathaus erhält Hitler die sogenannten "Treuebotschaften der 31 Gaue" überreicht. Er zeigt sich an diesem 09. April 1938, dem Tag vor der sog. "Heiligen Wahl" (Neue Freie Presse, 10.04.1938), der "Volksabstimmung über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich", der jubelnden Menge vom provisorischen Holzbalkon des Wiener Rathauses. Er tritt aufgrund des Begeisterungssturmes der Massen und Sprachchören, "... wir wollen unseren Führer sehen!" (Neues Wiener Tagblatt, 10.04.1938), mehrfach auf den Balkon.

Der 9. April 1938 war kein Tag wie jeder andere

"Ergriffenheit liegt über den erwartungsvoll gestimmten Massen" (Neues Wiener Tagblatt, 10.04.1938). Um 12:00 Uhr proklamiert Goebbels den sog. "Tag des Großdeutschen Reiches". Sirenengeheul, Läuten der Kirchenglocken Wiens sowie "donnernd dröhnende Motoren der Fluggeschwader" (Neues Wiener Tagblatt, 10.04.1938) begleiten die Inszenierung.

Dieser eigens für die Propagandaveranstaltung errichtete provisorische Holzbalkon wurde in den Monaten nach der Kundgebung in Stein ausgeführt, d. h. nachgebaut und an die Fassade des Rathauses "angefügt". Dort befindet er sich noch heute, Jahr für Jahr mit Pflanzen und Blumen geschmückt, wie auch alle anderen Balkone des Wiener Rathauses. Der riesige Platz vor dem Rathaus, auf dem gegenwärtig Jahr für Jahr der bekannte Wiener Christkindlmarkt zwischen Klischee und Kommerz stattfindet, war 1938 mit Tausenden Menschen gefüllt, die ihrem Idol zujubelten; dieser Platz hieß längst nicht mehr Rathausplatz, sondern Adolf Hitler Platz.

Plädoyer für Gedenkinstallation und Abriss des "Hitler-Balkons"

Memory Gaps ::: Erinnerungslücken plädiert im Gedenkjahr 2018 dafür, den sog. "Hitler-Balkon" von der Fassade des Wiener Rathauses zu entfernen und damit den ursprünglichen Bauzustand wieder herzustellen. Zusätzlich könnte eine Installation in der Turmloggia des Rathauses dem Gedenken an die während der NS-Zeit getöteten Mitglieder des Wiener Gemeinderates, der Rathaus- bzw. städtischen Beamten gewidmet werden. Am 12. Nov. 2018, dem 100. Jahrestag der Gründung der Republik Österreich, könnte die historische Rede des Staatskanzlers Karl Renner, vom 12. Nov. 1918, als versöhnende und gleichzeitig letzte Inbetriebnahme des Balkons, von diesem überbelasteten Ort aus öffentlich gelesen werden.

Dominik Schmidt, Konstanze Sailer

zur Intervention von Memory Gaps ::: Erinnerungslücken: "Hitler-Balkon" Teil I

zur Intervention von Memory Gaps ::: Erinnerungslücken: "Hitler-Balkon" Teil II

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"Memory Gaps ::: Erinnerungslücken", die digitale Kunstinitiative, wurde von der Malerin Konstanze Sailer 2015 gegründet.

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