Empörte Betroffenheit

Terror Man ist immer so sicher, wie man sich fühlt

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Empörte Betroffenheit

Foto: Fred Tanneau/AFP/Getty Images

Neben mir höre ich gleichmäßige Atemzüge, während ich meine Augen auf eines dieser kleinen Geräte richte, die einen weit hinaus in die Welt blicken lassen. Eigentlich müsste ich schlafen. Doch ich scrolle durch meine Twitter-Timeline und suche nach Tweets über den Anschlag von Boston. Twitter macht mich zum Voyeur. Als die Amerikaner Anfang der Neunziger das erste mal im Irak einmarschierten lief die ganze Nacht das Radio und es drangen immer wieder Nachrichtenfetzen durch ins schlafende Bewusstsein. Trotzdem war ich am nächsten Morgen kaum schlauer als die anderen in der Schule, nur müder. Gestern Abend waren Minuten nach dem Anschlag die ersten Videos im Netz, um die Quelle regelmäßigen Atems neben mir nicht zum überlaufen zu bringen, blieb der Ton in der Welt und mein Bett still. Einer meiner ersten Gedanken war, dass man ein echtes Problem hat, wenn man am Ende eines Marathons schnell fliehen muss. Ich war nicht verwundert, dass es einen der Läufer von den Beinen geholt hat. Es war wohl weniger die Druckwelle, denn alle anderen um ihn blieben aufrecht, als vielmehr der kurze Mangel an Konzentration, den jeder Schritt nach 42 Km fordert.

Ein Teil der Twittergemeinde war empört: In Bagdad sterben fast täglich dutzende Menschen bei Bombenanschlägen und IHR seit betroffen, wegen ein paar Läufern? So ist das mit dem Mitgefühl, entweder sollen es alle bekommen, oder keiner. Dabei geht es doch weniger um mangelndes Mitgefühl, als um das Gefühl, die Gewalt hielte Einzug in die eigene Welt, das Gefühl von Unsicherheit. Außerdem gibt es in Bagdadhweniger Live-Schaltungen und Bandbreite. Außerdem sind wir Meldungen von Selbstmordattentätern gewohnt, die Opferzahlen nur noch Abstrakte Nummern, die jeden Tag abgenickt werden, wenn es mal mehr als 100 Tote sind erklingt ein leises Seufzen vom Frühstückstisch.

Die ungerecht verteilte Betroffenheit ist die Rendite unserer Sicherheit vor Terroranschlägen. Unsere Sicherheit würde sich, statistisch betrachtet, kaum verändern, gäbe es täglich einen Anschlag wie den in Boston. Verübt in der “westlichen Welt”, gerichtet gegen unsere Art des Lebens, was auch immer das sein mag. Über die Opfer von Schießwaffen, Straßenverkehr, Krankenhausinfektionen, seit dem Anschlag wurde auch noch kein Wort verloren, obwohl sie Zahlenmäßig weit höher liegen dürften als die aus Boston. Aber sie gehören halt dazu, genau wie die aus Bagdad, auf alle könnte ich gut verzichten. Ich behalte beim Boston-Marathon lieber Uta Pippig im Kopf, die sich mal anschickte ihn zu gewinnen oder es tat, ich habe es vergessen.

Im Deutschlandfunk durfte Sabrina Mockenhaupt heute morgen ebenfalls ein Statement abgeben. Sie war 10. geworden, das kann sich sehen lassen. Und sie war zwei Stunden vorher GENAU an der Stelle gewesen, wo die Bombe explodiert war. Und dann hatte sie im Hotel vom Anschlag gehört und war sehr betroffen gewesen und es noch. Gut das wir drüber gesprochen haben. “Mockie” kann man keinen Vorwurf machen, sie hat nur ihren Job gemacht, im Gegensatz zur Redaktion vom Deutschlandfunk.

Habe ich jetzt Angst vor meinem nächsten Marathon? Oder sorge mich um Freunde die am Wochenende in Hamburg laufen? Ich halte es mit dem Herren den die Explosion von den Füßen geholt hat. Der 78 Jährige hat, nachdem ihm ein Streckenposten aufgeholfen hatte, weitergemacht und die letzten Meter des Rennens beendet.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

merdeister

Ein guter Charakter erzieht sich selbst. - Indigokind - Blogtherapeut

merdeister

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