Herr Steiner und die informierte Ministerin

Pharmaconcern Woher kommt die Idee, Masern hätten einen 'Sinn'?

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[In einem meiner letzten Beiträge schnitt ich die unsinnige Einstellung von Barbara Steffens zu Masernimpfungen an, geäußert 2007 im Landtag. Ich fragte, mit welchen Ärzten sie sich wohl unterhalten haben mochte, um diese mit solcher Inbrunst im Landtag zu verbreiten. Hier der Versuch einer Antwort.]

Während meiner Ausbildung zum Kinderkrankenpfleger tauschten sich meine Mitschülerinnen auch über Kinderkrankheiten aus. Dabei wurde gerne davon geschwärmt, welche Entwicklungsschritte die eigenen Kinder nach einer durchstandenen fieberhaften Erkrankung, ganz besonders nach den Masern, gemacht hätten. Ich nickte. Mir war klar, an Krankheiten wächst man, an Kinderkrankheiten ganz besonders. Die sind gut fürs Immunsystem und die Entwicklung als Mensch. So zumindest hatte es sich diese Annahmen in meinem Hirn, als Fakten getarnt, festgesetzt. Resultierend aus Gesprächen in der Familie und bei Freunden. Wie so oft gilt auch hier:

Klingt irgendwie gut, ist aber falsch.

Mehr als falsch, sage ich heute. Aber erst einmal schaue ich nach, woher die Idee kommt, Masern durchzumachen sei nicht nur nicht schädlich, sondern sogar wichtig. Und nicht zum ersten und wohl nicht zum letzten Mal bei solchen Fragen lande ich bei einem der beliebtesten Dampfplauderer der Esoterikszene: Rudolf Steiner.

Masern sind, seiner Schauung nach, Wirkung eines karmischen Erlebnisses, also aus einem früheren Leben herrührend. In dem habe man sich zuviel mit sich selbst beschäftigt, anstatt sich gerne um die äußere Welt zu kümmern, die Folgen dieses Makels beseitigen die Masern. Außerdem seien Masern wichtig um sich vom Ererbten der Eltern zu lösen. Masern sorgen für den Ab- und Neuaufbau leiblicher Strukturen. Die Masern dienen, folgen wir dem rhetorischen Scheinriesen Steiner, der Persönlichkeitsentwicklung, indem sie helfen, sich vom karmischen Ballast zu lösen. Diese Persönlichkeitsentwicklung ist auch ohne Masern möglich und sie, man mag es kaum glauben, schützt vor Masern wird sie vollzogen, bevor man daran erkrankt. Solche Herleitungen sind die feuchten Träume der Mind-Body-Mediziner.

In Deutschland gibt es eine kleine Gruppe von ÄrztInnen, die der Meinung sind, die Äußerungen ihres Gurus hätten nicht nur zu seiner Zeit etwas sinnvolles zum medizinischen Wissen beigetragen, sondern halten sie weiterhin für aktuell. An der Leitlinie der “Gemeinschaft anthroposophischer Ärzte Deutschlands” (GAÄD) kann man hervorragend sehen, wie leicht es ist, von einer Annahme rückwärts argumentierend, seinen Glauben zu bestätigen.

So ist die Behauptung, Masernimpfungen verursachten Allergien und Autoimmunerkrankungen nicht zu halten, sie ist falsch. Das hindert die AutorInnen nicht daran, sich Anekdoten und Fallsammlungen herauszupicken um Steiners Gerede zu ‘belegen’. Impfen ist sicher, sicherer zumindest, als eine Wildinfektion mit dem Erreger. Ein kurzer Ausflug in die Immunologie macht deutlich, warum das ein erwartbares Ergebnis ist.

Autoimmunerkrankungen werden hervorgerufen durch Antikörper, die sich gegen körpereigene Strukturen (meist Proteine, z.B. Bestandteile der Zellwand). Antikörper werden nicht geordnet hergestellt, so nach dem Motto: ‘Hier ist eine Virus, dafür brauchen wir einen Antikörper.’ Antikörper werden chaotisch hergestellt, in Massen. Bevor sie in die Blutbahn entlassen werden, wird (über Mechanismen, die den Rahmen dieses Textes sprengen würden) überprüft ob sie gegen körpereigene Bestandteile gerichtet sind. Wenn das der Fall ist, werden die Zellen, die sie herstellen zum Absterben gebracht. Alle anderen wandern ins Blut. Dort planschen sie herum, bis sie zufällig auf ein Virus treffen, an das sie binden können. Wenn das passiert, wird die Zelle, welche die Antikörper herstellt (vor der Aktivierung hängen die Antikörper an der Zelle, die sie herstellen) aktiviert und produziert große Mengen des Antikörpers, der nun frei im Blut herumschwimmt. Gleichzeitig teilt sich die Zelle um mehr Antikörper herstellen zu können.

Auf einem Virus sind viel mehr Stellen an die verschiedene Antikörper “andocken” können, als bei einem Impfstoff. Im Idealfall ist im Impfstoff ein Epitop (Stelle zum andocken) welches einem Epitop im Virus entspricht (die ist meist sehr wichtig für das Virus, um zu funktionieren). Gegen dieses eine (oder ein paar wenige) Epitope bilden sich nach einer Impfung Antikörper und blockieren das echte Virus, wenn es in den Körper kommt. Bei einer Wildinfektion bilden sich Antikörper gegen alle möglichen Epitope auf dem Virus. Einige können Proteinen ähnlich sein, die es im Körper gibt (der am Anfang beschrieben Prozess der Aussortierung ist sehr gut aber nicht perfekt). In dem Fall kann eine Autoimmunerkrankung entstehen. Auch nach einer Impfung ist das möglich, passiert jedoch deutlich seltener als nach der Wildinfektion.

Um einen hübsch martialischen Vergleich zu wählen, ist eine Impfung wie ein Scharfschütze, eine Wildinfektion dagegen wie eine Gruppe betrunkener Söldner mit Kalaschnikows. In beiden Fällen wird der Gegner beseitigt im letzteren muss man allerdings hinterher renovieren.

Es gibt also deutliche Hinweise, dass Impfungen sicherer sind als Wildinfektionen. Es gibt Erklärungen, warum sie sicherer sind als Wildinfektionen. Hinweise für mehr immunologisch bedingte Erkrankungen bei gegen Masern geimpfte Kinder fehlen. Es gibt keine, über Anekdoten und Steiner-Storys hinausgehenden, Belege, dass ein Kind von einer Masernerkrankung profitiert. Es gibt jedoch gut belegte Zahlen zu den Folgen von Masern, die GAÄD nennt diese auch. Fakt ist, Masern haben Folgen: Bleibende Lähmungen behalten ca. 1:2000-3000 Infizierten, das Risiko zu sterben liegt zwischen 1:10 000 und 1:100 000. Diese Lähmungen und Todesfälle (von Krampfanfällen, Lungenentzündungen und Schmerzen einmal abgesehen) sind anthroposophische ÄrztInnen bereit in Kauf zu nehmen, aufgrund der Wahnideen eines 1925 verstorbenen Herren, der an Kobolde glaubte.

Was haben Menschen eigentlich gemacht, um ihre Persönlichkeit karmisch zu reinigen (oder wie auch immer), bevor es Masern gab? Aktuelle Forschung deutet darauf hin, dass das Masernvirus uns als Art erst seit 10000-12000 Jahren begleitet. Für Anthroposophen also nach dem atlantidischen Zeitalter. Es stammt vom Rinderpestvirus ab und hat den Artsprung wahrscheinlich in der Jungsteinzeit, als “wir” sesshaft wurden und auf engem Raum mit unserem Nutzvieh zusammenlebten, geschafft (eine Konstellation dass uns heute noch neue Versionen des Influenzavirus verschafft).

Und warum ist die Sterblichkeit an Masern in Entwicklungsländern so viel höher, in einigen Gebieten 25%? Die offensichtliche Antwort wäre der ohnehin schlechte Gesundheitszustand der Bevölkerung vor Ort. Aus anthroposophischer Perspektive könnte man auch einfach annehmen, die Menschen in solchen Ländern haben, als Angehörige einer kindlichen Rasse, nicht die geistigen Möglichkeiten, sich mit karmischen Ereignissen auseinanderzusetzen und das Ganze auch zu überleben. Ganz im Gegensatz zur erwachsenen weißen Rasse, die zukünftige, (…) am Geiste schaffende Rasse.

Mir scheint, Frau Steffens hat sich im Vorfeld ihrer Landtagsrede 2007 mit anthroposophischen ÄrztInnen unterhalten und deren (und damit Steiners) Aussagen für bare Münze genommen. Man kann nur hoffen, sie wusste nichts von dem infantilen rassistischen Sumpf der diesen Ideen als Nährboden dient. Ich wusste nichts davon, als ich damals fröhlich nickte und bereit war, das Leben einiger Kinder für die Entwicklung anderer zu riskieren. Doch zum Glück hatte ich Masern und kümmere mich gern um die äußere Welt und kann meine Einstellungen mit der Realität abgleichen. Ein Glück das nicht jeder/m vergönnt ist, mit oder ohne Impfung.

Off Topic:

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Geschrieben von

merdeister

Ein guter Charakter erzieht sich selbst. - Indigokind - Blogtherapeut

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